Kapitel 91: Der Ruf der ewigen Wellen
Die Dämmerung legte sich schwer über das Schlachtfeld von Waterloo, und das Dröhnen der gewaltigen Armeen verschmolz mit einem Flüstern aus einer längst vergessenen Zeit. Der Wind trug den Geschmack von Salz und Eisen, als sich die Gefährten in die Nebel des vergangenen Krieges begaben, um sich den Mächten der Geschichte erneut zu stellen.
„Dieser Ort…“, sagte Kai, als er auf die sich windenden Truppenlinien blickte. „Ich erinnere mich. Doch es fühlt sich anders an, als ob der Kampf hier nie aufgehört hätte.“ Sein Blick blieb an den verwüsteten Feldern hängen, die sich in die unendliche Weite der Geschichte ausdehnten.
„Es ist nicht dasselbe, Kai“, antwortete Solan nachdenklich. „Wir sind zurückgekehrt, aber dieser Ort hat sich verändert. Es ist, als ob die Zeit selbst sich an den Kampf klammert.“ Er spürte die Flimmern der Ätherenergie, die die Luft durchzog, und die Risse in der Zeit, die nun in diesen Spuren verwoben waren.
Myria, die Herrin der Nebel, trat neben ihn, ihre Bewegungen fließend und wie von den Geistern der Nebel geführt. „Die Luft ist schwerer. Die Mächte der Götter sind nicht mehr dieselben. Ich kann ihre Präsenz spüren, doch sie sind nicht mehr nur Zuschauer. Sie kämpfen jetzt selbst.“
Der Wind drehte sich plötzlich, und der Nebel, den sie kontrollierte, verdichtete sich um sie, bis sie wie in einen Kokon aus grauer Stille gehüllt war. Doch in diesem Nebel, in der Stille, konnte jeder von ihnen die Schicksalsfäden spüren, die sich zu einer neuen Geschichte webten.
„Wir müssen die Götter finden“, sagte Lyra, ihr Armband glänzte im fahlen Licht. „Ihre Macht hat uns immer gelenkt, doch jetzt… sie ist gestört. Etwas Dunkles hat die Fäden der Geschichte entwirrt, und wir müssen den Ursprung dieses Chaos finden.“
„Aber wo beginnen?“ fragte Selena, die Lichtweberin, deren Augen im Dämmerlicht eine goldene Aura reflektierten.
„Wo alles begann“, murmelte Sira Valeris, die Verwandlungskünstlerin, ihre Form in einen flimmernden Schatten verwandelnd, „in der alten Welt, auf den Feldern von Hastings, in den Ruinen der Burgen und der Kämpfe, die diese Erde prägten.“
Und so zog die Gruppe weiter, zurück in die Zeit, wo die ersten Funken der großen Schlachten und Konflikte aufblitzten. Die Kleidung und Ausrüstung der Gefährten passten sich automatisch der neuen Ära an, die sie betraten. Kai trug nun die Rüstung eines mittelalterlichen Ritters, die Klinge eines Schwertes in der Hand, das von den längst vergessenen Schmieden der alten Krieger geschmiedet wurde. Lyra trug einen feinen, aber robusten Mantel, der ihre Bewegungen schützte, während ihr Armband in schimmerndem Silber glänzte und die Zeitströme um sie herum in ihrer neuen Form kanalisierten.
Der Wind brachte das Aufeinandertreffen der Armeen, das berühmte Zusammentreffen von Englands und Frankreichs Streitkräften, aber auch die Geister und Fäden der verpassten Möglichkeiten. Ihre Reise führte sie an Orte, die sie bereits gekannt hatten, aber diesmal anders waren – die Burgen von Hastings, deren Mauern in den Nebel getaucht waren, die zerklüfteten Hügel von Frankreich, die von den Echos vergangener Kämpfe widerhallten.
„Es hat sich verändert“, sagte Seraphine Veyra, die Visionärin. Ihre Augen, erleuchtet von einem inneren Glanz, verfolgten die flimmernden Bilder der Zukunft. „Hier war ich schon einmal. Und doch… der Ausgang des Kampfes wird sich ändern. Der Verlauf der Zeit hat sich gewunden und verändert.“
„Was bedeutet das für uns?“ fragte Solan, den Blick in den Nebel gerichtet, der sich vor ihnen auftürmte.
„Wir müssen den Ursprung des Chaos finden“, antwortete Myria mit fester Stimme. „Dieser Ort, dieser Punkt in der Geschichte, war der erste Riss. Die Mächte, die sich hier erhoben, sind diejenigen, die den Fluss der Geschichte in Bewegung gesetzt haben. Wir sind Teil dieses Flusses. Aber jetzt… wir müssen uns ihm stellen.“
Die Gefährten begannen ihre Reise in die Tiefen der Geschichte, in eine Welt von endlosen Schlachten und dunklen Geheimnissen. Sie gingen durch das mittelalterliche Europa, durch die Ruinen von Burg Rabenstein, und fanden sich in den dichten Wäldern von Schottland wieder, wo die düsteren Spuren der Highlander in die Geschichte eingraviert waren. Die Armeen von William Wallace, der den Willen zur Freiheit in seinen Armen trug, kämpften gegen die englischen Invasoren, und die Gefährten erlebten die wilde Wut der schottischen Krieger.
„Die Freiheit des Schottlands liegt nicht in den Händen von denen, die die Krone tragen“, sagte Kai, als er sich neben einem schottischen Krieger stellte und den Blick auf den Kampf richtete. „Sie liegt in den Händen derer, die bereit sind, für das zu kämpfen, was sie für richtig halten.“
„Aber was tun wir hier?“, fragte Selena, die ihre Augen fest auf das Schlachtfeld gerichtet hatte. „Wir sind nicht nur Beobachter.“
„Nein“, antwortete Myria. „Wir sind auch die Wächter. Wir müssen sicherstellen, dass dieser Moment in der Geschichte nicht verfälscht wird. Wir sind die Flussbändiger, die den Strom des Schicksals lenken.“
Mit einem Mal wehte der Wind stärker, und das Bild der Schlacht verwischte. Ein neuer Ort formte sich vor ihnen – der Kampf von Waterloo, aber diesmal nicht nur als menschlicher Konflikt, sondern als das Aufeinandertreffen von zwei mächtigen Wesen aus der Vergangenheit. Es war ein Krieg der Götter, die nicht mehr im Verborgenen agierten, sondern die Erde selbst veränderten. Und hier, auf diesem Schlachtfeld, kämpften nicht nur Armeen, sondern auch die Götter der alten Welt, die Macht über die Zeit selbst beanspruchten.
„Mephos ist hier“, sagte Solan mit einem Blick in die Ferne. „Der dunkle Regent ist der wahre Feind. Er hat die Kräfte entfesselt, die den Fluss der Zeit verschieben. Wenn er siegreich ist, wird die Welt niemals mehr dieselbe sein.“
Der Boden unter ihnen bebte, als sich die Schlacht der Götter entfaltete. Doch die Gefährten wussten, dass sie mehr als nur auf einem physischen Schlachtfeld kämpften. Sie kämpften um das Schicksal der Welt, das in ihren Händen lag, als sie sich erneut in die Tiefen der Zeit stürzten.
„Dies ist die wahre Schlacht“, sagte Lyra, als die goldenen Strahlen des Sonnenuntergangs über den Horizont glitten. „Nicht nur die Schlachten, die wir sehen. Es ist die Schlacht der Epochen. Und wir müssen sie gewinnen.“