Kapitel 89: Der Fluss der Zeiten
Die schattenhaften Umrisse der Schlachtfelder verschwanden langsam, und die Gefährten fanden sich auf einem weiten, offenen Landstrich wieder. Doch etwas war anders – der Wind war nicht mehr der selbe. Er war schwer von Salz und Asche, vermischt mit den Gerüchen vergangener Epochen. Der Horizont, der sich vor ihnen ausbreitete, war von den Ruinen einer einst mächtigen Zivilisation durchzogen. Statt den staubigen Straßen von Italien standen sie nun auf einer Straße, die zu den alten Mauern von London führte.
„London im Jahre 1346…“, murmelte Solan, als er die Umrisse der Stadt erkannte, „doch etwas ist anders. Diese Stadt… sie fühlt sich verändert an.“
Kai nickte, während er den vertrauten Griff seines Schwertes spürte. „Der Wind hat den Geschmack der Geschichte verändert. Aber die Schlacht von Crécy liegt hinter uns. Was erwartet uns hier?“
„Die dunklen Nebel der Vergangenheit sind dichter geworden“, flüsterte Myria, die als Herrin der Nebel stets ein feines Gespür für die tiefen Strömungen der Zeit hatte. „Die Welt hat sich verändert, und nicht nur im Hinblick auf die Kriege. Hier verbirgt sich eine andere Macht, die die Geschichte selbst beeinflussen will.“
In der Ferne ertönte ein lauter Klang, der wie das Drahen der Hufe von Tausenden Pferden klang. Der Boden unter ihren Füßen bebte leicht, und die Luft schien sich mit der Spannung eines bevorstehenden Konflikts aufzuladen. Kai spürte, wie die Kräfte der Zeit erneut zu kollidieren begannen, und der Duft von Eisen und Blut war nicht weit.
„Die Zeit hat uns wieder hierher geführt“, sagte Solan, seine Augen auf die nahenden Armeen gerichtet. „Und diesmal sind es nicht nur die Nationen, die kämpfen. Es sind die Gottheiten der Geschichte selbst, die in diese Schlacht eingreifen wollen.“
„Die Götter…“, sagte Lyra mit einer Mischung aus Respekt und Furcht. Ihre Hand lag auf ihrem Artefakt, das sich nun in einer neuen Form zeigte – ein Armband, der in den Farben des Frühjahrs schimmerte. „Ich habe das Gefühl, dass dieser Kampf mehr ist als nur ein Krieg. Es geht um die Macht, die Zeit zu formen.“
Mit einem letzten Blick auf die Armeen, die sich im Dämmerlicht sammelten, entschlossen sie sich, voranzuschreiten. Die Zeitenwelle, die sie führte, schien sie an einen Ort zu bringen, der von der Geschichte nicht vergessen worden war, aber von den Geschichten der Menschen verborgen blieb.
Die Gefährten erreichten die Tore Londons, wo sich eine völlig neue Szenerie bot. Die Stadt hatte sich verändert, aber der alte, bekannte Duft von Teer und Staub hing noch immer in der Luft. Doch das, was sie sahen, war nicht das, was sie erwartet hatten.
„Was ist hier passiert?“, fragte Lyra, als sie die verändert gewordenen Straßen betrachtete. Die Gebäude waren einstöckig und aus Holz gebaut, ihre Fassaden zogen sich in den Himmel, fast wie eine Wand aus unendlich vielen Jahrhunderten.
„Es ist nicht die Stadt, die wir kannten“, sagte Kai. „Aber es ist dieselbe Stadt, dieselbe Zeit. Doch sie scheint im Wandel zu sein – wie alle Dinge, die den Einfluss der Götter tragen.“
Plötzlich erklang ein Ruf, der sie in die Realität zurückholte. Ein einzelner Ritter, in der Rüstung von einem Mann aus einer längst vergessenen Ära, trat aus den Schatten und zog das Schwert. „Die Reformation wird die Welt verändern“, sagte er mit einer Stimme, die die Luft zum Vibrieren brachte. „Die alten Götter sind gefallen, und ihre Kinder müssen kämpfen. Ihr seid in der Schlacht von Waterloo. Nicht der, von dem die Geschichte spricht. Nein, dieser Kampf wird euch alles kosten.“
„Was redest du?“, fragte Solan, dessen Schrifttafel wieder aufleuchtete, als der Name „Waterloo“ in den Sternen erschien.
„Die Zukunft“, sagte der Ritter mit einem kalten Lächeln. „Die kommende Revolution der Schöpfung wird sich hier und jetzt manifestieren.“
Und mit diesen Worten, die aus der Tiefe der Geschichte zu kommen schienen, zogen dunkle Wolken über den Himmel und verdunkelten das Land. Der Kampf hatte begonnen.
Die Gefährten fanden sich wieder in einem neuen Zeitalter – dem Zeitalter Napoleons. In den Straßen Londons vermischten sich die Gerüche von Schießpulver, von Schweiß und von Veränderung. Die Schotten, die Franzosen und die Engländer, alte Feinde und Alliierte zugleich, rüsteten sich für eine Schlacht, die nicht nur über die Weltgeschichte entscheiden sollte, sondern auch über das Gleichgewicht der Mächte der Zeit.
„Der Kaiser ist hier“, sagte Lyra mit einem Blick in die Ferne. „Napoleon Bonaparte. Aber er ist nicht allein. In den Schatten lauern diejenigen, die von den Göttern selbst geführt werden.“
Myria trat vor, ihre Hand erhoben. „Wir sind nicht nur Krieger. Wir sind die Hüter des Wissens. Die Zeit selbst fordert uns heraus. Die Schlachten, die wir kämpfen, sind nur der Anfang.“
Der Boden erzitterte erneut, als sich die Armeen zu einem gewaltigen Kampf sammelten, der das Land auf der Stelle verändern sollte. Napoleon, der Kaiser von Frankreich, der bis zu diesem Zeitpunkt unbesiegbar schien, spürte, dass das wahre Geheimnis der Macht nicht in den Soldaten oder in den Waffen lag, sondern in den verborgenen Wegen der Geschichte.
„Wir müssen uns der Wahrheit stellen“, sagte Solan. „Die Geschichte hat uns an einen Punkt geführt, an dem nicht nur die Schlachten entscheiden, sondern auch das Verständnis der wahren Kräfte, die hinter den Kulissen wirken.“
„Dann lasst uns kämpfen“, sagte Kai. „Für das, was wahr ist, und für das, was die Welt verändern wird.“
Und so zogen die Gefährten, Seite an Seite, in eine neue Ära, in der das Schicksal sich weiter spann, in der Zeit als ein endloser Fluss sie in den Abgrund von Geheimnissen und Entdeckungen führte. Die Götter, die Regierungen und die Armeen – sie alle kämpften, doch die wahren Helden waren diejenigen, die verstanden, dass der wahre Krieg nicht auf den Schlachtfeldern, sondern in den Weiten der Geschichte selbst geführt wurde.
Doch dieser Krieg hatte gerade erst begonnen.