Kapitel 87: Die Rüstung der Zeiten
Der Nebel löste sich, und wie ein sanftes Rauschen war die Zeitenwelle erneut verschwunden. Die Gefährten standen in einem sich wandelnden Moment, als sich die Wellen der Geschichte um sie zusammenzogen. Der Ort war vertraut, doch die Zeit hatte ihn erneut verändert. Sie waren zurück in England, jedoch nicht in der Zeit, die sie zuvor betreten hatten. Es war 1327, und die Schattenspiele der mittelalterlichen Welt hatten sich erneut verdichtet.
„Dies ist der Beginn eines neuen Krieges“, sagte Solan, als er den Blick auf die rauchenden Schlachtfelder richtete. „Die Rosenkriege stehen bevor – ein blutiger Konflikt zwischen den Häusern Lancaster und York. Ein Krieg, der England über Jahre hinweg erschüttern wird.“
Lyra, die nun ein prächtiges, dunkelgrünes Gewand trug, das an die adlige Mode der Zeit erinnerte, zog ihren Schild näher an sich. Die Rüstung, die sich automatisch angepasst hatte, war nun mit den Symbolen eines goldenen Löwen geschmückt – dem Wappen von Lancaster. Kai trug ebenfalls eine neue Rüstung, die der eines mittelalterlichen Ritters entsprach. Sein Schwert war nun schwerer, aus gehärtetem Stahl, und auf seiner Brust prangte das Wappen der Löwen von England.
„Kriege, die das Land für immer verändern werden“, murmelte Kai und blickte auf das ferne Schlachtfeld. „Doch das ist nicht unsere Aufgabe, oder?“
„Nein“, sagte Lyra entschlossen, „wir sind hier, um zu verstehen, was zwischen den Zeilen der Geschichte verborgen liegt. Der wahre Kampf wartet in den Schatten, in denen uns die Götter und die Zeit selbst beobachten.“
Ein lauter Ruf ertönte, und sie wandten sich um. Sira, die sich erneut in den Adler verwandelt hatte, schwebte über ihnen und ließ ihre scharfen Augen über das geschäftige Lagerfeld gleiten.
„Etwas stimmt nicht“, sagte sie mit einer Stimme, die wie der Wind klang. „Die Sterne scheinen sich nicht richtig auszurichten. Ein neuer Feind könnte sich zeigen.“
„Ein Feind, der noch nicht in den Büchern geschrieben steht“, fügte Myria Dunkelmond hinzu, die sich mit einer grauen Kapuze in den Schatten legte. „Vielleicht ist es die Zeit selbst, die uns fordert.“
„Dann müssen wir uns vorbereiten“, sagte Solan, seine Stimme fest und ruhig. „Die Zeit ist ein unberechenbarer Fluss, und jeder Moment, den wir betreten, kann sich in einen Sturm verwandeln.“
Plötzlich zerriss ein schrecklicher Ruf die Luft. Die Gefährten rannten zur Quelle des Geräusches. Vor ihnen ragten die dunklen Wände einer alten, im Nebel verborgenen Festung auf – eine Festung, die sie einst besucht hatten, aber nun von der Zeit so verändert war, dass sie sie kaum wiedererkannten. Es war das Schloss von Edward III., doch der Glanz von einst war verblasst, die Mauern bröckelten, und die Luft war schwer von dunklen Vorahnungen.
„Wir sind wieder hier“, flüsterte Lyra, „doch alles hat sich verändert.“
Kai nickte, während er sich an das Schloss erinnerte. „Es war einst das Zentrum der Macht. Doch jetzt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es fühlt sich an, als wäre es in Vergessenheit geraten.“
„Die Zeit hat uns alle verändert“, sagte Solan nachdenklich. „Aber wir müssen herausfinden, was hier passiert ist. Wer oder was hat diese Festung in diesem Zustand hinterlassen?“
Kaum hatten sie das Tor der Festung betreten, da wurden sie von einer Vielzahl von seltsamen, fast geisterhaften Erscheinungen begrüßt. Die Wände waren mit Inschriften und alten Symbolen bedeckt – Zeichen einer Macht, die sie noch nie gesehen hatten.
„Was ist das?“, fragte Lyra, als ihre Augen die Zeichen aufnahmen.
„Es scheint, als ob eine uralte Macht diese Stelle beeinflusst hat“, erklärte Solan, seine Stimme langsam und bedächtig. „Vielleicht eine Erinnerung an längst vergangene Götter oder Zivilisationen, die einst hier herrschten. Diese Symbole… sie sind wie das alte, vergessene Wissen.“
„Und was, wenn dieses Wissen uns den Weg zum nächsten Schlüssel zeigt?“, fragte Kai, die Hand fest um das Schwert legend. „Wir können nicht zurück, nur vorwärts.“
„Ganz recht“, sagte Myria, die in den Nebeln vor ihnen stand und mit einer Hand die Luft durchbrach. „Aber die wahre Frage ist, ob wir den Mut haben, uns dem zu stellen, was noch kommen wird.“
Der Boden unter ihren Füßen vibrierte plötzlich. Ein mächtiger Sturm, der die Zeit selbst zu zerrreißen schien, erhob sich und hüllte sie in einen dichten Nebel. Ein Wind, stark wie die Jahrhunderte, trug sie davon und die Welt verschwamm vor ihren Augen.
Als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürten, waren sie nicht mehr in der Festung. Stattdessen fanden sie sich auf einem völlig neuen Schlachtfeld wieder. Der Himmel war mit dichten, dunklen Wolken verhangen, und das Klirren von Schwertern und Rüstungen hallte in ihren Ohren. Sie waren im Jahr 1337 angekommen, mitten im Hundertjährigen Krieg, einem der erbittertsten Konflikte Europas.
„Jetzt wird es noch schwieriger“, sagte Solan und zog eine Schrifttafel hervor. „Die Engländer kämpfen gegen die Franzosen um das Erbe der Krone. Dies wird ein Krieg von epischen Ausmaßen, und der Verlauf dieses Krieges wird über das Schicksal ganzer Nationen entscheiden.“
Die Gefährten blickten sich an. Es war eine erneute Herausforderung, und sie waren bereit. Aber die Epochen hatten sich verändert, und so auch ihre Waffen, ihre Rüstungen und ihre Fähigkeiten.
Lyra trug nun einen Helm, dessen visierartige Öffnung einen eleganten Blick auf ihre Augen freigab, und ihr Schild war größer und schwerer geworden, während Kai ein schier unzerstörbares Langschwert in der Hand hielt. Solan war ebenfalls ausgestattet, doch seine Kleidung spiegelte nun das Aussehen eines mittelalterlichen Gelehrten wider – ein Symbol für das Wissen, das er in jeder Ära ansammeln würde.
„Der wahre Feind ist nicht immer sichtbar“, sagte Myria, die ihre Nebelkräfte beherrschte und ihre Sinne auf die unsichtbaren Kräfte richtete. „Manchmal ist es die Zeit, die uns gegen uns selbst wendet.“
„Wir müssen uns der Geschichte stellen“, sagte Lyra. „Und wir müssen uns zusammenhalten.“
Die Gefährten begaben sich mitten in die Schlacht von Crécy, wo der englische Langbogen gegen die französischen Ritter antrat. Der Kampf tobte mit unvorstellbarer Wucht. Pfeile flogen durch die Luft, und der Boden bebte unter den Angriffen der schwer gepanzerten Ritter.
„Wir sind nicht hier, um diese Schlacht zu gewinnen“, sagte Solan, „aber wir müssen verstehen, wie sich der Nebel der Geschichte formt. Jeder dieser Kriege ist ein Schritt, ein weiterer Puzzlestein.“
Und so begannen sie erneut, den Kampf der Zeiten zu verstehen – nicht durch den Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern durch das Wissen, das sie sammelten. Doch das, was sie nicht wussten, war, dass der wahre Gegner, den sie bald erkennen würden, etwas war, das sie niemals erwartet hatten: eine dunkle Macht, die von den Göttern der Vergangenheit selbst heraufbeschworen wurde und die in den Tiefen der Geschichte schlummerte, um die Zivilisationen für immer zu verändern.
Die Reise hatte gerade erst begonnen.