Kapitel 69: Der Weg der Agari
Die Dämmerung hatte sich über den Ätherischen Strand gelegt, und die Luft schien von einer eigenartigen, fast greifbaren Schwere erfüllt zu sein. Die Wellen des mystischen Strandes brachen mit einem sanften, aber unheimlichen Rauschen an den Ufern, deren unnatürliche Farben in der trüben Dämmerung leuchteten. Die Gruppe stand am Rand des Strandes, die Augen auf den geheimnisvollen Horizont gerichtet, während Myria Dunkelmond sie warnend ansah.
„Der Ätherische Strand ist nicht mehr, was er einst war“, sagte sie leise, als ihre Augen über das gewundene Land schweiften. „Die Dunkelheit hat ihren Einfluss auch hier hinterlassen. Der Pfad, den ihr sucht, ist durch das Reich der Agari verborgen – und nur sie können euch den Zugang gewähren.“
Lyra spürte die Kälte in der Luft, die sich wie ein unsichtbarer Schleier über die Gruppe legte. „Die Agari“, murmelte sie, „ein Volk von Kriegern, die im Einklang mit den Sternen leben. Wir sind schon einmal hier gewesen, aber dieser Ort… er fühlt sich anders an.“
„Es ist nicht nur der Strand“, fügte Solan hinzu und blickte um sich. „Auch die Zeit hat sich verändert. Erinnerungen verschwimmen. Was früher war, ist nun anders. Vielleicht haben wir einen neuen Moment in der Geschichte betreten.“
„Und dennoch“, sagte Kai, während er die schimmernde, unnatürliche See betrachtete, „der Weg bleibt derselbe. Wir müssen das Herz der Dunkelheit erreichen und die Agari überzeugen, uns zu helfen.“
In diesem Moment ertönte das ferne Geräusch von Schlägen, als ob der Boden selbst zu pulsieren begann. „Sie kommen“, sagte Seraphine Veyra, die Visionärin, und blickte besorgt in die Ferne. „Ich sehe Schatten. Sie sind nicht menschlich. Dunkle Mächte sind ihnen gefolgt.“
Lyra blickte auf den Horizont. Der Ätherische Strand hatte sich in eine Art Zwischenraum verwandelt – ein Ort, an dem Zeit und Raum sich verschoben. „Es wird nicht einfach“, sagte sie, ihre Hand fest um das Armband an ihrem Handgelenk gelegt, das sich nun leicht verändert hatte, sich der Zeit und dem Ort anzupassen. Es war nicht mehr das zarte Schmuckstück, das es zuvor gewesen war; es hatte nun die Form eines schlichten, in Sternenlicht getauchten Armbands, der in der Dunkelheit schimmerte.
„Seht“, rief Selena Arinthal, die Lichtweberin, und schritt voran. Sie hob die Hände, und Lichtstrahlen brachen durch die Dämmerung, doch sie prallten an einer unsichtbaren Wand ab, die sich wie ein dunkles Netz über den Strand zog. „Die Dunkelheit ist bereits hier. Und sie ist stark.“
„Die Agari haben sich verändert“, sagte Myria, als sie sich umdrehte, „und so auch der Weg, den ihr gehen müsst. Der Zugang zu ihren Dörfern ist versperrt, aber ich kann ihn öffnen, wenn ihr mir vertraut.“
„Vertrauen ist eine seltene Ware in diesen Zeiten“, sagte Kai mit einem düsteren Grinsen. „Aber wir haben keine Wahl. Wir folgen dir, Myria.“
Mit einem geheimnisvollen Lächeln führte Myria die Gruppe entlang des Strandes, ihre Schritte hinterließen keine Spuren im feinen Sand. Die Luft flimmerte um sie herum, als der Nebel, den sie beherrschte, sich wie ein unsichtbarer Schleier über die Gruppe legte. Die Dunkelheit wich zurück, als ob sie dem Nebel Angst hatte.
Bald erreichten sie einen dichten Wald aus silbrigen Bäumen, deren Äste sich wie Schlangen in den Himmel windeten. Es war der Obsidianwald, und in seiner Mitte befand sich der geheime Eingang zu den Hütten der Agari. Doch der Wald war nicht mehr derselbe, wie sie ihn in der Vergangenheit gesehen hatten. Die Bäume, die einst lebendig und voller Energie waren, wirkten nun stumpf und leblos. Ihre Wurzeln schlangen sich über den Boden, als wollten sie das Land selbst in die Tiefe ziehen.
„Was ist mit dem Obsidianwald passiert?“, fragte Lyra, als sie sich dem Eingang näherte.
„Er wurde von der Dunkelheit durchdrungen“, antwortete Myria. „Der Wald ist nun ein Bollwerk gegen die Mächte des Lichts. Aber er hält auch diejenigen fern, die kommen, um den Agari zu schaden.“
„Dann lasst uns nicht lange zögern“, sagte Kai, der den Rücken gerade hielt und sich den Weg durch den dunklen Wald bahnte. „Wir haben schon Schlimmeres gesehen.“
„Wartet!“, rief Seraphine plötzlich. Sie starrte in die Luft, ihre Augen weit aufgerissen. „Es gibt noch etwas anderes. Eine Präsenz… Sie ist stärker als die Dunkelheit hier. Und sie folgt uns.“
„Mephos“, sagte Solan mit düsterer Miene. „Der Dunkle Regent ist uns auf den Fersen. Aber wir dürfen uns nicht ablenken lassen. Der Tempel von Ysmir wartet auf uns. Wir können nicht aufhören.“
„Die Agari werden wissen, was zu tun ist“, sagte Myria. „Vertraut mir. Sie sind die letzten, die die Dunkelheit noch nicht völlig verschlungen hat. Sie besitzen das Wissen, das wir brauchen.“
Die Gruppe setzte ihren Weg fort, tiefer in den Wald hinein, als plötzlich eine Stimme aus dem Nebel ertönte. „Wer wagt es, den Weg zu betreten?“
Aus den Schatten traten drei Gestalten hervor – die Agari, Krieger mit den Augen der Sterne und dem Wissen des Ätherischen Strands. Ihre Haut war mit symbolischen Zeichen bedeckt, und ihre Waffen glänzten im schimmernden Nebel. „Wir haben euch erwartet“, sagte einer der Agari in einer fremden, melodischen Sprache.
„Ihr habt euch verändert“, sagte Lyra, als sie den Blick der Krieger erfasste. „Was ist mit euch geschehen?“
„Die Dunkelheit hat uns verwandelt“, sagte der Agari-Krieger. „Aber unser Eid bleibt derselbe. Wir sind die Wächter des Wissens. Wenn ihr den Tempel von Ysmir erreichen wollt, müsst ihr durch uns hindurch.“
„Dann lasst uns nicht lange um Worte feilschen“, sagte Kai mit entschlossenem Blick. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
„Erweist uns eure Stärke“, sagte der Agari mit einem Anflug von Respekt. „Nur wer die Dunkelheit überwindet, kann den Tempel von Ysmir betreten.“
Ein kurzer Blick zwischen den Gefährten – dann stürmten sie vorwärts. Die Agari erhoben ihre Waffen, und die Dunkelheit begann sich um sie zu sammeln. Doch Lyra wusste, dass sie sich nicht nur der Dunkelheit stellen mussten, sondern auch der Prüfung der Agari, die ihre Reise nur mit der Kraft des Lichts fortsetzen würden.
Der erste Schlag ertönte, als die Agari sich in Bewegung setzten und der Wald in einem wahren Sturm von Licht und Schatten zu beben begann.
„Wir kämpfen für das Licht der Welt“, rief Lyra, und ihre Stimme hallte durch den Obsidianwald, der sich erneut zu verändern begann. Die Dunkelheit zog sich zurück, aber auch die Dunkelheit der Agari erwachte zu neuem Leben.
Die Reise hatte ihren Höhepunkt erreicht, und der Kampf, der vor ihnen lag, war nicht nur ein Kampf um Tyros, sondern auch um die Kontrolle über die Dunkelheit selbst. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft verschmolzen zu einem einzigen Moment – und dieser Moment würde die Welt für immer verändern.