Kapitel 66: Der Schatten des Krieges
Der Wind trug den schweren Geruch von Eisen und Blut, als die Gruppe mit Alexander dem Großen auf das Schlachtfeld von Gaugamela vorrückte. Die Sonne brannte unerbittlich auf den staubigen Boden, und die Geräusche von Hufen, Waffen und Schreien erfüllten die Luft. Der Boden unter ihren Füßen war von den vielen Kämpfen der vergangenen Tage gezeichnet – zerschlissene Rüstungen, verstreute Waffen und die erschöpften Körper der Soldaten, die sich in den letzten Stunden vor der entscheidenden Schlacht versammelten.
„Dieser Moment… er wird die Welt für immer verändern“, sagte Alexander in einem flüsternden Ton, als er zu Lyra und der Gruppe blickte. „Die Sonne wird untergehen, und die dunklen Wolken werden sich über den Himmel legen. Doch der Krieg, den wir heute führen, wird nicht nur die Geschicke der Menschen verändern. Es wird das Ende einer Ära einläuten. Es wird das Tor zur Dunkelheit öffnen.“
Lyra spürte, wie sich die Luft um sie herum aufzuladen begann. Der Nebel der Dunkelheit schien sich langsam zu materialisieren, als hätte er die Schlacht aus der Vergangenheit herausgesogen und sie in den Raum der Gegenwart gezogen. Der Obsidianwald, der sich durch die Zeitenwelle hindurch manifestiert hatte, war nicht nur ein Ort, sondern auch ein Spiegel der vergangenen Konflikte, die die Welt gezeichnet hatten. Die Dunkelheit, die sich immer weiter ausbreitete, war kein Zufall. Sie war ein Teil dieser Geschichte, geboren aus dem Schmerz und den Narben der Kriege, die die Erde erschüttert hatten.
„Ich spüre es auch“, flüsterte Solan, als er mit dem Blick über das Schlachtfeld streifte. „Der Krieg, den wir hier sehen, ist nicht nur ein Konflikt zwischen zwei Armeen. Es ist das Echo von etwas Größerem. Etwas, das uns alle verfolgt.“
„Was meinst du?“ fragte Kai, der immer noch mit seinem Schwert in der Hand den Horizont absuchte.
„Die Dunkelheit hat sich bereits in diese Zeit eingeschlichen“, antwortete Solan nachdenklich. „Der Ursprung des Krieges, von dem wir sprechen, ist nicht nur in den Männern und Frauen auf diesem Feld zu finden. Es ist tief in der Geschichte verwurzelt, und das Schicksal von Alexander dem Großen könnte der Schlüssel zur Auflösung dieses Rätsels sein.“
„Alexander… du hast uns schon viel erzählt, aber warum ausgerechnet du?“ fragte Lyra, die immer noch den bleiernen Blick auf dem Gesicht des großen Eroberers bemerkte. „Warum gerade hier und jetzt?“
„Weil ich der Erbe der Kriege bin“, sagte Alexander, seine Stimme jetzt fest und entschlossen. „Ich habe das Reich von den Persern befreit und das Reich der Griechen geeint. Aber was die Geschichte mir nicht erzählt hat, was mir die Götter vorenthalten haben, ist, dass der Krieg nicht nur für Ruhm und Macht geführt wird. Der wahre Grund, warum wir kämpfen, ist, dass der Frieden, der uns vor den Augen der Welt als Ziel erscheint, oft von einer anderen, dunkleren Kraft durchdrungen ist. Ein Krieg wird nie nur von den Waffen gewonnen. Er wird von denen gewonnen, die das wahre Ziel erkennen. Und ich habe dies erkannt.“
Die Gruppe sah sich an, und ein unbestimmtes Gefühl von Dringlichkeit überkam sie. Lyra spürte die Kälte der Zeitenwelle, die sich wie ein Nebel um sie legte. Die Dunkelheit war mehr als nur ein Zustand. Sie war eine Präsenz, die sich in die Geschichte eingeschlichen hatte, immer wieder, bei jedem großen Konflikt, der die Welt erschütterte.
„Der Krieg hat viele Gesichter“, sagte Seraphine, ihre Stimme ruhig und gleichmäßig. „Und oft erscheint er als der Beginn von etwas Großem. Doch der wahre Kampf liegt nicht nur auf den Schlachtfeldern. Der wahre Kampf ist die Reise durch die Zeit selbst. Der wahre Krieg ist derjenige, der in uns allen tobt, zwischen Licht und Dunkelheit.“
„Dann lasst uns diesem Kampf stellen“, sagte Kai mit einem entschlossenen Nicken. „Die Dunkelheit hat uns bis hierher verfolgt. Jetzt ist es an der Zeit, sie zu konfrontieren.“
„Folgt mir“, sagte Alexander und schwang sich auf sein Pferd. „Wir müssen uns dem Zentrum der Schlacht stellen. Nur dort, an der Stelle, an der die Geschichte entschieden wird, können wir den Ursprung dieser Dunkelheit finden.“
Die Gruppe folgte ihm, ihre Kleidung und Ausrüstung passten sich sofort an die Epoche. Lyra trug nun eine glänzende Rüstung aus Bronze, die sich im Sonnenlicht spiegelte, und ihr Armband hatte sich zu einer eleganten Armspange verwandelt, die in einem zarten Glanz erstrahlte. Ihre Waffe, ein scharfes Schwert, war nun in der Form eines antiken, griechischen Kurzschwerts, das sie geschickt führte.
Sie ritten in den offenen Bereich des Schlachtfelds, wo sich die Armeen von Alexander und den Persern gegenüberstanden. Die Masse an Soldaten wirkte wie eine riesige, bewegliche Wand aus Stahl und Staub. Das Pferd unter Lyra schnaubte, als es über die Gräben und verstreuten Leichname der Gefallenen trabte, während die Gruppe den entscheidenden Punkt erreichte.
„Hier“, sagte Alexander und deutete auf das Zentrum des Schlachtfelds, „wird die Zukunft entschieden. Aber nicht nur dieser Krieg. Alle Kriege. Hier wird die Dunkelheit geboren, die uns verfolgt. Die Dunkelheit der Geschichte.“
Plötzlich zuckte ein greller Blitz über den Himmel, und die Erde erbebte, als ein mystisches Portal auf dem Schlachtfeld aufbrach. Die Dunkelheit, die sie immer verfolgt hatte, trat hervor. Sie war keine abstrakte Kraft mehr. Sie hatte eine Form angenommen – die Form von Mephos, dem Dunklen Regent.
„Ihr seid zu spät“, sagte Mephos mit einem schrecklichen Lächeln, das nichts Menschliches an sich hatte. „Die Dunkelheit ist bereits in der Welt. Die Götter haben uns geformt, und nun wird ihre Macht über euch herrschen.“
„Nicht wenn wir das verhindern können“, sagte Lyra, als sie ihr Schwert zog und sich auf Mephos stürzte. Die anderen folgten ihr, bereit, sich der Dunkelheit zu stellen, die nun das Schlachtfeld beherrschte.
Doch als sie in den Kampf stürzten, änderte sich etwas. Die Dunkelheit war nicht mehr nur ein Gegner. Sie war der Ursprung von allem – von der Geschichte, die sie erlebten, und von den Konflikten, die die Welt immer wieder ins Chaos stürzten. Und während sie kämpften, spürten sie, dass die Antwort auf die Frage, die sie so lange verfolgt hatte, nicht in einem einzelnen Kampf lag.
Die Dunkelheit war nicht nur ein Teil der Vergangenheit. Sie war die Essenz der Geschichte selbst.
Der Kampf hatte gerade erst begonnen.