Kapitel 65: Die Flamme der Geschichte
Der Riss in der Zeit schloss sich hinter ihnen, und der Boden unter ihren Füßen veränderte sich erneut. Als sich die Dunkelheit um sie legte, blinzelte Lyra und sah, dass sie wieder an einem Ort standen, den sie bereits zuvor besucht hatten – doch alles war anders. Der Obsidianwald. Doch nicht mehr der dichte, unheimliche Wald, den sie aus ihren früheren Reisen kannten. Die Bäume waren jetzt von einer seltsamen, leuchtenden Aura umgeben, die wie das flimmernde Licht eines fernen Sterns durch die Äste drang. Ein seltener, blutroter Nebel zog zwischen den Bäumen, und der Boden war nicht mehr die staubige Erde, sondern ein feuchter, grün schimmernder Mosaikboden, der die untere Hälfte von Bäumen und Sträuchern in ein gespenstisches Licht tauchte.
„Wir sind zurück“, sagte Kai mit einem ernsten Blick und sah sich um. „Doch etwas ist anders. Dieser Wald… er ist lebendiger als beim letzten Mal. Etwas hat sich verändert.“
„Ja“, antwortete Solan, während er seine Hand über die knorrigen Äste gleiten ließ. „Es fühlt sich an, als ob die Zeit hier in einem anderen Rhythmus pulsiert. Vielleicht, weil die Dunkelheit sich verändert hat.“
Myria, die die Düsternis besser kannte als jeder andere, trat näher und sah in den Nebel, der wie ein Schleier vor den Augen der Gruppe lag. „Die Dunkelheit… sie hat uns gefunden. Sie ist nicht nur ein Ort, sondern ein Wesen, das sich aus den Schattierungen der Geschichte selbst geformt hat. Und wir haben sie erneut betreten.“
Seraphine, die seit ihrer letzten Vision noch tiefer in die Geheimnisse der Dunkelheit eingetaucht war, nickte langsam. „Die Dunkelheit hat sich weiterentwickelt. Sie ist nicht länger nur ein Gefährte der Vergangenheit. Sie ist der Schleier, der über allen großen Kriegen und Schlachten liegt. Und nun hat sie uns als Zeitreisende erkannt. Wir müssen herausfinden, wie sie unser Schicksal beeinflussen wird.“
„Ein Weg führt uns weiter“, sagte Sira und wandte sich an die Gruppe. „Diese Wälder bergen viele Geheimnisse, und nur der Schlüssel wird uns durch den Nebel führen.“
Sie begannen, sich durch den Obsidianwald zu bewegen, als der vertraute, mystische Klang von Kristallen in der Ferne die Stille durchbrach. Solan ging voraus und suchte nach Anhaltspunkten, als er plötzlich innehielt.
„Die Kristallhöhlen“, flüsterte er. „Ich erkenne den Klang. Hier muss der Schlüssel verborgen sein. Er führt uns tiefer in das Labyrinth der Geschichte.“
Der Nebel verdichtete sich, als sie sich auf den Weg machten. In der Ferne konnten sie den schimmernden Glanz der Kristalle erkennen, die wie Sterne in einer vergessenen Nacht funkelten. Es war, als würde der Wald selbst sie leiten, als hätten die Kristalle ihre Energie gespeichert, um den Weg zu den verborgensten Ecken der Welt zu zeigen.
Doch als sie sich näherkamen, spürte Lyra, dass die Atmosphäre sich wieder verdichtete. Es war, als ob der Wald sie nicht einfach einlud, sondern sie auf eine Prüfung vorbereitete. Der Nebel, der wie ein lebendiges Wesen durch die Bäume zog, schien sich um ihre Köpfe zu winden, und jeder Schritt schien sie tiefer in eine andere Dimension zu ziehen.
„Vorsicht“, sagte Myria, ihre Augen blitzten in der Dunkelheit. „Etwas stimmt hier nicht.“
Kai zog sein Schwert und stellte sich in Verteidigungsposition. „Seid auf der Hut. Dies ist kein gewöhnlicher Wald. Diese Kristalle… sie haben eine eigene Macht.“
Die Gruppe erreichte schließlich den Eingang zu den Kristallhöhlen, und was sie dort vorfanden, ließ sie innehalten. Die Höhlen selbst waren weit größer, als sie sich erinnert hatten. Der Boden war nicht mehr der staubige Stein, den sie aus der Vergangenheit kannten. Stattdessen war er mit glänzenden Kristallen bedeckt, die in einem rhythmischen Takt vibrierten und die Luft mit einer elektrisierenden Energie füllten.
„Was ist das?“ fragte Lyra, als sie die Kristalle betrachtete. „Warum sind sie so… lebendig?“
„Das ist der Ursprung der Dunkelheit“, erklärte Seraphine leise. „Diese Kristalle sind die Keime der Zeit, sie speichern alle Ereignisse und Emotionen. Sie sind der Puls der Geschichte. Und sie haben uns hierher gerufen, weil wir die Verbindung zu den Ereignissen verstehen müssen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind.“
„Der Krieg, der uns gefolgt ist“, fügte Solan hinzu. „Er wird nicht nur aus Schlachten bestehen. Er wird aus der Geschichte selbst geboren. Aber warum jetzt? Warum in diesem Moment?“
„Wir müssen zurück“, sagte Lyra, als sie die kristallenen Fäden der Erinnerung in der Luft spürte. „Diese Höhlen werden uns zeigen, wie die Dunkelheit die großen Kriege überlebt hat. Aber wir müssen das gesamte Bild begreifen, nicht nur einzelne Episoden.“
„Der Ursprung“, flüsterte Myria, „der Ursprung des Krieges und der Dunkelheit. Wir müssen die Entstehung des ersten Konflikts verstehen. Nur dann wird die Dunkelheit ihren Schatten verlieren.“
Die Kristalle in den Höhlen begannen sich zu bewegen, ihre Oberflächen schimmern und pulsieren, als eine tiefe, uralte Kraft freigesetzt wurde. Und dann geschah es: Die Wände der Höhlen öffneten sich, und die Gruppe wurde von einer Flut von Licht und Dunkelheit erfasst, die sie in eine andere Zeit katapultierte.
Als die Zeitenwelle sich wieder schloss, standen sie auf dem Schlachtfeld der Antike – diesmal in einem anderen Jahrhundert. Der Boden war von Blut befleckt, und in der Ferne dröhnten die Hörner des Krieges. Sie hatten das Jahr 480 v. Chr. hinter sich gelassen und waren jetzt im Jahr 331 v. Chr., der Zeit von Alexander dem Großen. Doch der Ort, an dem sie standen, war nicht irgendein gewöhnlicher Schlachtplatz.
„Wir sind… bei Gaugamela“, sagte Solan, als er den Panzer der Armee erkannte. „Der entscheidende Moment des Perserkrieges. Alexander der Große steht kurz davor, die Welt zu verändern.“
Lyra spürte die gewaltige Energie des Ortes. Der Boden war von den Hufen der Pferde und den Füßen der Soldaten zertrampelt, und der Duft von Schweiß und Blut lag in der Luft. Die Armeen standen in perfekter Formation, und das gewaltige Heer von Alexander, das sich auf der anderen Seite des Feldes versammelte, war ein Anblick, der den Atem raubte.
„Aber warum hier?“, fragte Kai. „Warum genau jetzt?“
„Weil dies der Moment ist, in dem alles zusammenkommt“, sagte Seraphine, ihre Augen blitzten. „Wir müssen verstehen, wie der Krieg die Welt verändert hat. Alexander ist nicht nur ein Eroberer. Er ist der Schlüssel zur Dunkelheit, die uns verfolgt.“
„Und das Ende dieser Dunkelheit beginnt hier“, sagte Myria.
Alexander der Große trat auf sie zu, seine goldene Rüstung glänzte im Sonnenlicht. „Ihr seid nicht aus dieser Zeit“, sagte er, als er sie mit einem kritischen Blick musterte. „Und doch seid ihr hier, um die Geschichte zu verändern. Was wollt ihr von mir?“
„Wir suchen den Ursprung des Krieges“, antwortete Lyra ruhig. „Und wir glauben, dass du uns den Weg zeigen kannst.“
„Der Krieg ist mehr als nur ein Kampf“, sagte Alexander und blickte in die Ferne, wo die Wolken des kommenden Kampfes am Horizont aufstiegen. „Er ist die Antwort auf eine Frage, die die Geschichte immer wieder stellt. Ihr wollt wissen, warum die Dunkelheit immer über uns hängt? Kommt, und seht selbst.“
Mit diesen Worten führte Alexander sie auf das Schlachtfeld, und die letzte Wahrheit des Krieges würde sich vor ihnen entfalten.