Kapitel 61: Die Reise durch das verworrene Gewebe der Zeit
Die Schriftrolle, die sie aus dem Tempel von Enki geborgen hatten, lag nun vor ihnen ausgebreitet. Ihre Oberfläche pulsierte mit einer schwachen, blauen Energie, die in den Raum floss, als ob das Wissen selbst in die Luft gezeichnet werden wollte. Die Zeit schien stillzustehen, als sie die Karte betrachteten, die auf den geheimen Ort der „Inneren Welt“ hinwies – ein Ort, tief unter der Erde verborgen, in dem die uralten Geheimnisse der Dunkelheit geschlummert hatten. Doch bevor sie weitergehen konnten, war der Ruf der Geschichte zu stark, als dass sie ihm widerstehen konnten.
„Es gibt noch so viele Fragen, die beantwortet werden müssen“, murmelte Solan und strich mit den Fingern über die Inschriften, die in eine alte Sprache gehauen waren, die selbst er nur mit großer Mühe entziffern konnte. „Aber diese Karte wird uns nicht nur zum Ursprung der Dunkelheit führen. Sie weist uns auch zu den Wurzeln der großen Zivilisationen, zu Orten, die in den Falten der Geschichte verloren gegangen sind.“
„Die Antworten, die wir suchen, könnten sich in den Ruinen alter Welten finden“, sagte Myria mit einem Blick, der zwischen Nachdenklichkeit und Vorahnung schwankte. „Doch was wird geschehen, wenn wir sie finden? Was wird aus den vielen Epochen, die wir berühren, und den Menschen, die wir treffen?“
Kai trat vor, sein Blick fest, als er in die Zukunft sah. „Unsere Reise hat uns durch die Dunkelheit geführt, und jetzt müssen wir das Licht finden. Wir wissen, dass der Ursprung der Dunkelheit in der Inneren Welt liegt. Aber die Wege dorthin führen uns durch Zeitalter, die wir noch nie betreten haben.“
„Und durch Zivilisationen, die einst in den Staub gefallen sind“, ergänzte Seraphine. Ihre Augen leuchteten mit der Klarheit einer Vision. „Die Ära von Mesopotamien, von Enki und den frühen Göttern, ist nur der Anfang.“
Im nächsten Moment ergriff ein sanftes, aber dennoch kraftvolles Rauschen die Gruppe. Ein heller Lichtstrahl blitzte auf, und die Luft begann sich zu winden. Sie spürten das Ziehen der Zeitenwelle, wie sie sich um sie spannte und ihre Körper in die Tiefe der Vergangenheit zog.
Zeit: 221 v. Chr. – Das antike Griechenland
Mit einem Schlag fanden sie sich in einer anderen Ära wieder. Die goldene Sonne stand hoch am Himmel über der Akropolis, der mächtigen Festung, die über Athen wachte. Doch etwas war anders – der gewaltige Tempel des Zeus, der eigentlich zerstört war, stand in seiner ganzen Pracht vor ihnen, als wäre er in einem Augenblick wieder auferstanden.
„Athen“, sagte Solan leise, „und wir sind mitten im Zeitalter von Alexander dem Großen. Ein Zeitalter, das sich mit den Sternen und den Göttern vereinen wollte.“
„Wir müssen uns anpassen“, sagte Myria, während sie einen Blick auf ihre veränderte Kleidung warf. Ihre Roben hatten sich in feinste, mit goldenen Ornamenten verzierte Tuniken verwandelt, die den griechischen Göttern Ehre machten. Lyra, deren Armband nun zu einer eleganten Kette mit einem leuchtenden Anhänger geworden war, trat näher und betrachtete die Statue des Zeus.
„Es fühlt sich an, als ob der ganze Himmel über uns sich verdichtet hat“, sagte sie. „Wie eine Vorahnung von etwas Großem.“
„Alexander wird bald an die Macht kommen“, sagte Solan mit einem ernsten Blick. „Er wird die Welt verändern, aber noch ist er ein junger König. Doch die wahre Macht liegt nicht in den Händen eines Einzelnen, sondern in den Geheimnissen der alten Götter. Vielleicht können wir hier Antworten finden.“
Die Gruppe folgte den spärlichen, verworrenen Straßen von Athen, die von Händlern, Kriegern und Philosophen bevölkert waren. Sie begegneten der Philosophen-Schule von Sokrates, die inmitten eines belebten Marktplatzes eine Debatte über die Natur der Welt führte. Inmitten der Menge erkannte Kai den Schatten eines Mannes, der das Gespräch begleitete – es war Aristoteles, der Gelehrte, der als Lehrer von Alexander diente.
„Komm, wir müssen mehr erfahren“, sagte Kai, als er sich dem Gespräch näherte. „Aristoteles hat Wissen, das uns weiterbringt.“
Als sie sich in den Kreis der Philosophen begaben, sprach Aristoteles mit einer ruhigen und dennoch tiefen Stimme. „Die Welt ist von einem unaufhörlichen Zyklus von Geburten und Zerstörungen geprägt. Doch was ist der Ursprung dieser Zyklen? Woher kommen die Kräfte, die die Schöpfung immer wieder neu beginnen lassen?“
„Die Antwort liegt vielleicht in den vergessenen Erzählungen der Götter“, sagte Seraphine, als ihre Visionen ein Bild aus einer fernen Zukunft offenbarten. „In den Tiefen der Erde, wo die Dunkelheit auf den Ursprung der Zeit trifft.“
„Die Dunkelheit ist nicht nur ein Feind“, fügte Myria hinzu. „Sie ist ein Teil des Zyklus, ein Moment des Übergangs, der das Gleichgewicht zwischen den Welten wahrt. Aber wir müssen uns der Wahrheit stellen.“
Die Zeit um sie herum vibrierte erneut, und als sie den nächsten Schritt setzten, fanden sie sich plötzlich in einer neuen Ära wieder.
Zeit: 12 v. Chr. – Das römische Reich, in den Hallen des Kolosseums
Jetzt standen sie in einem riesigen Amphitheater, der Duft von Blut und Schweiß lag in der Luft. Doch der Koloss, der hier für ewige Ruhm und Verzweiflung gebaut wurde, schien in der Dämmerung eines längst vergessenen Krieges zu stehen. Die Geräusche der kämpfenden Gladiatoren hallten in ihren Ohren, doch etwas war anders – die Atmosphäre war gesättigt mit einer dunklen Energie, als ob der Wahnsinn von Tausenden von Jahren in diesem Moment eingefangen wurde.
„Rom“, sagte Lyra, „eine andere Ära. Aber etwas hier ist… ungewöhnlich.“
„Die Spiele waren eine Möglichkeit, die Menschen zu vereinen und zu kontrollieren“, sagte Solan, als er das gewaltige Kolosseum musterte. „Aber die wahre Macht wurde von den Göttern selbst ausgeübt. Und in dieser Ära war der Kaiser Augustus an der Macht. Doch es gibt noch immer Geheimnisse, die im Schatten der Macht liegen.“
„Wir müssen den Ursprung dieser Dunkelheit finden“, sagte Kai. „Es könnte hier sein, in den Tiefen der römischen Macht oder in den verschwundenen Geheimnissen der alten Welt.“
Die Gruppe betrat das Kolosseum, und in der Arena begegneten sie einem Mann, der sich mit finsteren Augen ihnen zuwandte. „Ich spüre, dass ihr nach dem sucht, was in den Tiefen des Reiches verborgen liegt“, sagte er mit einer Stimme, die so tief und mächtig wie das Vibrieren der Erde war. „Mein Name ist Titus Flavius Vespasianus, aber in den Schatten nennen mich viele… der Hüter des verbotenen Wissens.“
„Du weißt von der Dunkelheit“, sagte Solan, als er die Visionen in seinem Geist aussprach. „Von der Zeitenwelle. Von den Göttern, die uns verfolgen.“
„Ja“, sagte Titus mit einem Lächeln, das mehr wie ein Raubtiergrinsen wirkte. „Doch nicht alle, die das Wissen suchen, sind bereit, die Wahrheit zu ertragen. Ihr werdet sehen, dass es mehr gibt, als ihr euch vorstellen könnt.“
Doch bevor sie mehr erfahren konnten, erbebte die Erde unter ihren Füßen, und das Kolosseum begann sich zu verändern. Die Zeitenwelle zog sie erneut weiter, tiefer in die Geschichte, hinein in das unbekannte Dunkel.