Kapitel 59: Die Reise der Wellen
Die sengende Sonne Ägyptens brannte weiterhin auf ihre Köpfe, als Lyra, Kai, Solan und die anderen sich auf den Weg zum Ätherischen Strand machten. Die monumentalen Pyramiden von Gizeh waren nun nur noch ein ferner Punkt am Horizont, aber der Hauch von Geschichte schien an diesem Ort in der Luft zu liegen, der sie wie ein unsichtbarer Schleier umgab.
Der Pharao hatte sie auf einen gefährlichen Weg geschickt, doch sie wussten nun, dass ihr Ziel nicht nur die Vernichtung der Dunkelheit war. Der Schleier der Geschichte, von dem er gesprochen hatte, war mehr als nur ein mystisches Konzept. Es war ein Ort – ein Ort, der den Ursprung aller Zeit, aller Welten und aller Epochen in sich barg.
„Der Ätherische Strand“, sagte Solan nachdenklich und blickte auf die weite Wüste, die sich endlos vor ihnen erstreckte. „Dieser Ort ist wie der Rand der Zeit selbst. Wenn wir dort sind, wird sich alles verändern. Wir müssen alles richtig machen.“
„Kein Druck“, murmelte Kai mit einem leicht ironischen Lächeln, während er sein Schwert fest in der Hand hielt. „Wenn wir einen Fehler machen, dann wird nicht nur die Dunkelheit siegen, sondern auch die Zeit selbst.“
Lyra spürte das Artefakt an ihrem Handgelenk, das in regelmäßigen Abständen zu pulsieren schien. Es hatte sich wieder verändert, sich dem Rhythmus der Ära angepasst. Die schimmernde goldene Kette war jetzt eine Art prächtiger Armband, der sich fast wie ein Teil ihrer eigenen Haut anfühlte. Sie wusste, dass der Armband-Teil des Artefakts ein Hinweis darauf war, dass sie sich auf eine noch tiefere Ebene der Zeitreise begaben.
Der Ätherische Strand, von dem der Pharao gesprochen hatte, war ein legendärer Ort, an dem Realität und Illusion in einem Tanz aus Licht und Dunkelheit verschmolzen. Hier, so hieß es, war die Zeit nicht nur ein Fluss, sondern ein Ozean, in dem die Wellen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander übergingen. Doch der Weg dorthin führte sie durch die geheimen, vergessenen Ecken der Weltgeschichte – Orte, die in der Erinnerung der Menschen kaum noch existierten.
„Ich habe Visionen von diesem Ort gesehen“, sagte Seraphine, die Visionärin der Gruppe, ihre Augen noch immer von dem besonderen Glanz der Zukunft durchzogen. „Der Ätherische Strand ist mehr als nur ein Ort der Zeit. Er ist ein Ort, der uns zu den Ursprüngen von allem führen kann. Wir müssen die Dunkelheit konfrontieren und dabei die wahre Bedeutung von Geschichte begreifen.“
„Ich hatte schon immer das Gefühl, dass die Antworten irgendwo in der Tiefe liegen“, fügte Myria hinzu, ihre Stimme von Nebel umhüllt, der ihre Bewegungen wie Schatten verhüllte. „Es ist, als ob dieser Ort uns ruft.“
Der Ätherische Strand war ein mystischer Ort, der nur in den ältesten Legenden zu finden war. Keiner der heutigen Völker wusste genau, wo er lag, aber in den Erzählungen der Agari, einem Volk von Sternenkartenwächtern, hieß es, dass dieser Strand sich nur zeigte, wenn die Zeit selbst in Gefahr war.
„Ich hoffe, dass wir ihn finden, bevor die Dunkelheit uns verschluckt“, sagte Kai, seine Hand an der Klinge seines Schwertes. „Ich kann das Gefühl der Bedrohung immer noch in der Luft spüren. Es ist, als ob sie uns beobachtet.“
Die Reise führte sie tiefer in die geheimen Teile der Welt, die nur wenigen bekannt waren. Sie passierten den Vergessenen Garten von Sahran, ein Ort, an dem die Zeit in einer unendlichen Schleife gefangen war, und die Kristallhöhlen von Agramar, in denen die Geister längst verstorbener Zivilisationen in den flimmernden Wänden der Kristalle gefangen waren. Überall, wo sie hinkamen, spürten sie das Gewicht der Jahrtausende, das in der Luft hing.
„Hier war ich schon einmal“, sagte Lyra, als sie einen Ort betrat, den sie zuvor nur aus alten Schriften gekannt hatte. Der Obsidianwald, in dem die Bäume schwarzen Glanz hatten und der Boden von einem düsteren Nebel bedeckt war, war ein Ort, der sich in ihrer Erinnerung eingeprägt hatte. Doch jetzt war er nicht mehr der Ort der Ruhe, den sie einst gesehen hatte. Es war ein düsterer Wald voller flüsternder Schatten, die sich von den Bäumen zu lösen schienen.
„Der Wald ist verändert“, sagte Lyra, während sie die Umgebung genauer betrachtete. „Etwas hat ihn verändert. Ich hatte das Gefühl, dass er uns kennt.“
„Es ist die Dunkelheit“, murmelte Solan, der Historiker, und drehte sich zu Lyra. „Sie hat längst begonnen, die Welt zu korrumpieren. Sogar die natürlichen Orte sind nicht mehr sicher vor ihr.“
Der Ätherische Strand war jedoch ihre wahre Bestimmung, und der Weg führte sie weiter, durch weite Ebenen und über Berge, bis sie schließlich das glitzernde Wasser des Strandes erblickten. Hier, wo die Wellen nicht nur das Wasser, sondern die gesamte Realität selbst zu bewegen schienen, standen sie endlich. Doch der Weg war noch nicht frei.
„Das ist der Ort“, sagte Solan mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Besorgnis. „Doch die Dunkelheit hat hier bereits ihre Finger im Spiel.“
Der Strand selbst war von einer seltsamen Aura umgeben. Der Himmel war in immer neuen Farben getaucht, und das Wasser schien sich in einer konstanten Bewegung zu befinden, die das Verständnis der Zeit in Frage stellte.
„Wir sind am Rand der Zeit“, flüsterte Myria. „Und wir müssen uns dem stellen, was dort wartet.“
Plötzlich durchbrach ein gewaltiger Riss den Himmel, und eine dunkle Gestalt trat aus der Luft. Ihre Umrisse waren von einem unheilvollen Glanz durchzogen, und die Luft wurde schwer. Es war der Schleier selbst, der sie nun herausforderte.
„Ihr wollt die Dunkelheit besiegen?“, rief die Gestalt mit einer Stimme, die wie der Klang von tausend zerbrochenen Uhren klang. „Die Dunkelheit ist die Zeit. Sie ist der Ursprung aller Dinge, und ohne sie kann es keine Lichtstrahlen geben.“
„Das werden wir sehen“, sagte Kai, dessen Augen von einer Entschlossenheit erfüllt waren, die selbst die Dunkelheit herausforderte. „Denn wenn wir die Dunkelheit nicht besiegen, dann werden wir alle in ihrem Schatten vergehen.“
„Dann kommen wir ans Ziel“, sagte Lyra, als sie den Armband an ihrem Handgelenk ergriff. „Lasst uns den Schleier brechen.“
In diesem Moment, als die Dunkelheit sich zu manifestieren begann und die Realität um sie herum zu zerfließen drohte, wusste Lyra, dass dies der entscheidende Augenblick war. Der Ätherische Strand war nicht nur ein Ort der Zeit. Er war der Ort, an dem alle Stränge zusammenliefen – der Ursprung der Dunkelheit, der Ursprung der Welt und der Ursprung des Schicksals. Und nun lag es an ihnen, das Band zwischen den Welten zu zerschneiden.
Die Dunkelheit knisterte und zog sich um sie zusammen, aber sie waren nicht alleine. An ihrer Seite standen nicht nur die Gefährten der Gegenwart, sondern auch die Geister der Vergangenheit, die Schatten der Geschichte, die auf ihre Handlungen warteten.
„Ihr werdet es nicht schaffen“, flüsterte die Dunkelheit, aber Kai hob das Schwert, und Solan trat einen Schritt vor.
„Wir werden sehen“, sagte Solan ruhig. „Denn die Geschichte gehört uns allen.“
Und mit einem vereinten Schlag, einem einzigen Stoß der Wahrheit und des Lichts, brachen sie die Zeitenwellen, und der Schleier der Dunkelheit zerbrach.
Der Ätherische Strand begann sich zu verwandeln.