Kapitel 58: Der Schleier des Äthers

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Lesedauer 4 Minuten

Kapitel 58: Der Schleier des Äthers

Die Dunkelheit im Tempel von Ysmir schien mit jedem Schritt, den die Gruppe machte, dichter zu werden. Der schimmernde Sternenstein in Lyras Hand pulsierte im Rhythmus ihres eigenen Herzschlags, und ihre Gedanken schienen sich in einer wirbelnden Zeitspirale zu verlieren. Die Wände des Tempels, übersät mit uralten, glänzenden Sternenbildern, begannen sich zu bewegen, als ob sie sich den Gesetzmäßigkeiten der Zeit entzögen. Hier, unter der Erde, an einem Ort, wo die Sterne die Schicksalsfäden der Welt webten, war die Grenze zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließend.

„Dieser Ort… er fühlt sich anders an“, sagte Solan und blickte sich um, als ob die Wände selbst mit ihm sprechen wollten. „Es ist, als ob die Zeit hier nicht nur verworren, sondern auch in Stücke gerissen ist. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem alle Linien zusammenlaufen.“

„Und der Schatten… er ist näher als je zuvor“, murmelte Myria, deren Augen nun von Nebelflocken durchzogen waren, die aus ihren Händen wie zarte Dämpfe entglitten. „Die Dunkelheit hat diesen Ort berührt, er ist wie ein offenes Fenster in die Zeit, das wir nicht schließen können, ohne den Ursprung zu berühren.“

„Lasst uns keine Zeit verlieren“, sagte Lyra entschlossen und griff nach dem Artefakt, das sie um den Hals trug. Es schien jetzt die Form eines glühenden Armbands angenommen zu haben, der sich wie flüssiges Metall an ihren Arm schmiegte. „Wenn wir den Schleier der Zeit durchdringen wollen, müssen wir wissen, was wir suchen.“

Der Raum begann sich zu verändern. Der Boden unter ihren Füßen bebte, als sich die Realität vor ihren Augen verzerrte. Plötzlich standen sie nicht mehr in einem dunklen Tempel, sondern in einer weiten, offenen Ebene, die von eindrucksvollen Monumenten umgeben war. Der Luftzug war warm und schwer von der Hitze der Sonne. Sie erblickten eine riesige Stadt in der Ferne, die mit gewaltigen Mauern umgeben war, und dahinter ragten die Pyramiden von Gizeh in den Himmel, als ob sie die Ewigkeit selbst herausfordern wollten.

„Was ist das?“, fragte Kai, seine Augen weiteten sich. „Wir sind nicht mehr im Tempel. Wo sind wir?“

„Ägypten“, sagte Solan mit einem Hauch von Ehrfurcht. „Im Jahr 2580 v. Chr., zur Zeit der großen Pharaonen.“

„Die Pyramiden“, flüsterte Myria, ihre Stimme von Staunen durchzogen. „Die Erde selbst trägt hier Geschichte, und diese Zeit scheint sich mit unserer zu überschneiden. Aber warum sind wir hier?“

„Wir müssen herausfinden, wie der Schleier der Geschichte uns hierher geführt hat“, sagte Lyra, ihre Hand das Artefakt streichelnd. Der Armband glühte intensiver, als sie sich der Stadt näherte. „Vielleicht gibt es hier Hinweise, die uns weiterführen.“

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„Oder vielleicht gibt es Antworten zu der Frage, wie wir die Dunkelheit stoppen können“, fügte Kai hinzu und zog sein Schwert, das nun als römische Gladiusklinge in seiner Hand funkelte. „Denn diese Dunkelheit ist überall, und sie hat schon in den tiefsten Epochen gewütet.“

Die Gruppe machte sich auf den Weg in die Stadt, ihre Kleidung hatte sich automatisch an die Zeit angepasst. Lyra trug nun eine Tunika aus feinstem Leinen, die mit goldenen Borten verziert war, und an ihrem Hals hing der Artefakt-Armband, der sich an die ägyptische Mode angepasst hatte. Kai hatte eine lederne Tunika und trug einen kleinen Schild, der typisch für die Krieger dieser Zeit war. Solan trug eine prächtige Robe aus farbenfrohem Stoff, die die Wissenselite Ägyptens widerspiegelte.

„Wir müssen den Pharao finden“, sagte Solan, als sie das große Tor zur Stadt erreichten. „Er könnte der Schlüssel zu diesem Moment in der Geschichte sein.“

Der Palast des Pharaos war ein imposantes Bauwerk aus gewaltigen Steinquadern und kunstvoll verzierten Säulen, die in den Himmel ragten. Sie wurden von Wachen in prächtigen Rüstungen begrüßt, doch statt sie abzuweisen, führte man sie direkt zum Pharao.

„Der Pharao wird euch erwarten“, sagte einer der Wachen, und so traten sie ein.

Im Thronsaal saß der Pharao, ein mächtiger Mann, dessen Ausstrahlung die Macht und das Wissen dieser Ära in sich vereinte. „Ihr kommt zu spät“, sagte er mit einer Stimme, die wie ein Donnerschlag durch den Raum hallte. „Die Zeit hat sich bereits gewendet, und der Schleier ist dünn geworden. Ihr sucht nach Antworten, doch die Dunkelheit hat auch diese Welt erreicht. Der Schleier wird uns alle verschlingen, wenn ihr nicht rechtzeitig handelt.“

„Der Schleier?“, fragte Lyra, ihr Blick fest auf den Pharao gerichtet. „Was meint Ihr?“

„Der Schleier der Geschichte“, erklärte der Pharao. „Er ist nicht nur ein Symbol, sondern eine Macht, die sich über die Zeit selbst legt. Er hat uns in die Vergangenheit und Zukunft geführt. Die Dunkelheit, die ihr bekämpft, ist nicht nur ein Schatten, sondern ein eigenständiges Wesen, das sich von der Geschichte selbst nährt. Sie verschlingt alles, was sie berührt.“

„Wie können wir den Schleier brechen?“, fragte Solan, der das Wissen der alten Welt in sich trug. „Was müssen wir tun, um die Dunkelheit zu besiegen?“

„Ihr müsst den Ort finden, an dem die Zeit und die Dunkelheit ihren Ursprung haben“, sagte der Pharao, seine Augen von einer unheimlichen Weisheit durchzogen. „Es gibt einen Tempel, der älter ist als alle anderen, und der die Zeit selbst beherrscht. Ihr müsst zum Ätherischen Strand von Selaria reisen. Dort wird sich der Schleier lichten. Doch seid vorsichtig – der Weg dorthin ist voller Gefahren.“

„Der Ätherische Strand von Selaria“, wiederholte Lyra, als sie das Wort verinnerlichte. „Ein mystischer Ort, von dem nur die Alten sprachen.“

„Ja“, sagte der Pharao. „Doch denkt daran, der Schleier selbst ist ein lebendiges Wesen. Er wird euch nicht ohne weiteres zulassen. Wenn ihr dorthin reist, müsst ihr bereit sein, die Dunkelheit selbst zu konfrontieren.“

„Wir haben keine Wahl“, sagte Kai und zog sein Schwert. „Der Schleier muss zerrissen werden, und wir sind diejenigen, die es tun werden.“

Die Gruppe verließ den Palast des Pharaos und begab sich auf ihre Reise. Der Ätherische Strand war weit entfernt, und die Zeit, in der sie sich befanden, hatte sich erneut verändert. Die Kleidung und Waffen der Gruppe passten sich der neuen Epoche an, doch das Artefakt, das Lyra trug, war weiterhin an ihrem Handgelenk und glühte, als wäre es ein lebendiger Teil ihrer Reise durch die Zeit.

„Wir müssen zum Ätherischen Strand“, sagte Solan, „aber der Weg wird gefährlich sein. Wir müssen uns auf alles vorbereiten.“

Die Reise führte sie durch weite Wüstenlandschaften und vorbei an alten Ruinen, die von Zivilisationen zeugten, die längst untergegangen waren. Und während sie weiterzogen, begannen die Wellen der Zeit immer mehr miteinander zu verschmelzen, als würden sie zu einem einzigen, unaufhaltsamen Strom werden.

Doch am Horizont, wo der Himmel und das Meer ineinander übergingen, sahen sie schließlich den Ätherischen Strand – ein Ort, an dem die Realität selbst in Wellen floss und sich das Bewusstsein der Reisenden verflüchtigte. Der Schleier der Zeit war am dünnsten, und die Dunkelheit konnte nun nicht mehr zurückweichen.

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