Kapitel 56: Der Fall von Karthago

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Kapitel 56: Der Fall von Karthago

Die Luft um die Gruppe war ruhig, beinahe erdrückend still, als die Zeitenwelle erneut ihre greifbare Energie entfaltete. Das Artefakt, das Lyra immer bei sich trug, pulsierte wie ein Herzschlag, der durch die Schatten der Jahrtausende schwang. Ihr Körper fühlte sich an wie aus Nebel gewebt, als die Welt um sie herum verschwand und sich in einem blendenden Strudel von Licht und Dunkelheit verwandelte.

„Karthago. 146 v. Chr.“, murmelte Solan, als sie inmitten des schwindenden Lichts landeten. Der Historiker war der Erste, der seine Umgebung wahrnahm. „Die letzte Stunde der Punischen Kriege. Rom wird der Herrscher des westlichen Mittelmeers, aber zu welchem Preis?“

Lyra blinzelte, um sich an die neue Zeit zu gewöhnen. Die Sonne brannte auf den staubigen Boden, und der Duft von Feuer und Eisen hing in der Luft. Vor ihnen erhob sich das zerstörte Karthago – riesige Mauern, die einst mächtig gewesen waren, zerfallen und vom Krieg gezeichnet. Flammen züngelten aus den Ruinen, und das unheilvolle Dröhnen von Schlachten war immer noch in der Ferne zu hören.

„Karthago wird fallen“, sagte Kai, als er die Überreste der einst blühenden Metropole musterte. „Aber ich fürchte, es sind nicht nur die Römer, die heute ihre Waffen erheben.“

„Es gibt dunkle Kräfte hier“, fügte Myria Dunkelmond hinzu, als ihre Augen über die weiten Ruinen glitten. Der Nebel, den sie beherrschte, versuchte, sich zu entfalten, als ob er in diesem Land der Verdammten selbst eine Macht für sich beanspruchen wollte. „Der Schatten ist tief in den Trümmern verborgen. Wir müssen tiefer in die Stadt, um herauszufinden, was hier wirklich geschieht.“

„Vielleicht ist es die Zeit, die sich selbst gegen uns wendet“, sagte Seraphine Veyra mit einem nachdenklichen Blick. „Ich sehe eine Zerstörung. Aber nicht nur durch Waffen – es sind die Götter selbst, die hier eingreifen. Eine dunkle Macht formt den Untergang dieser Stadt.“

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„Götter?“ fragte Kai skeptisch. „Welche Götter?“

„Die alten, die vergessenen, die von den Römern verdrängten“, erklärte Solan. „In dieser Zeit wird Karthago untergehen, nicht nur durch die Gewalt der Menschen, sondern durch die Rache eines Gottes, dessen Name in den Schatten des Vergessens verloren ging. Es gibt Gerüchte über eine Macht, die über das Schicksal der Stadt wacht, eine Entität, die in den Geheimnissen der Punischen Kriege verborgen ist.“

„Und wir müssen sie finden“, sagte Lyra entschlossen. „Dieser Gott oder diese Macht – was immer es ist – könnte der Schlüssel zu den dunklen Schatten sein, die die Zeit beeinflussen.“

Die Gruppe bahnte sich einen Weg durch die brennenden Straßen von Karthago. Hier und dort hörten sie das Dröhnen von Schlachten und das Klirren von Waffen. Doch der wahre Schrecken war nicht das menschliche Leid, das sie sahen, sondern das Gefühl der Bedrohung, das aus der Erde selbst zu kommen schien.

„Die Quelle dieser Dunkelheit muss sich tief im Inneren der Stadt befinden“, sagte Selena Arinthal und schirmte ihre Augen ab, als sie auf das sich zusammenziehende Wolkenband am Horizont blickte. „Vielleicht ist es der Tempel von Tanit, der den Göttern geweiht war.“

„Tanit“, flüsterte Solan. „Die Göttin der Fruchtbarkeit und des Krieges, eine der ältesten Götter von Karthago. Aber ihr Name ist auch mit Zerstörung und Blutvergießen verbunden. Wenn ihr Zorn entfesselt wird, wird der Himmel brennen.“

„Und was, wenn ihr Zorn bereits entfesselt wurde?“ fragte Myria, als sie mit einem Blick die brennenden Ruinen betrachtete. „Wir müssen diesen Tempel finden.“

Die Gruppe machte sich auf den Weg. Doch je näher sie dem Tempel kamen, desto stärker war das Gefühl einer unsichtbaren Präsenz. Der Nebel verdichtete sich, und plötzlich spürte jeder, dass sie nicht allein waren.

Sira Valeris, die sich in einen Falken verwandelt hatte, flog hoch über die Ruinen und brachte eine erschreckende Nachricht. „Es ist nicht nur Tanit, die hier wacht. Es gibt noch eine andere Entität, die ihre dunkle Macht entfaltet hat. Und sie ist auf uns aufmerksam geworden.“

Ein tiefes Grollen ließ den Boden beben. Ein unsichtbares, bedrohliches Wesen näherte sich. Die Dunkelheit verschlang die Sonne, und der Himmel über Karthago verdunkelte sich.

„Das ist mehr als nur die Götter. Das ist der Schatten, der sich mit den Zeitaltern mischt“, sagte Solan, als er eine uralte Inschrift auf einer Steintafel las. „Der Tempel von Tanit ist der Schlüssel – aber auch der Ort, an dem die Dunkelheit sich mit den Göttern verbündet hat.“

„Dann müssen wir den Tempel betreten“, sagte Kai entschlossen. „Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn der Schatten hier ist, dann ist er nicht weit von uns.“

Mit zügigen Schritten betraten sie den Tempel von Tanit. Die Wände waren mit verzerrten Darstellungen von Schlachten und Opfern bedeckt, ihre Bedeutung war verloren, doch die Macht, die sie ausstrahlten, war allgegenwärtig. Lyra hob das Artefakt, das nun wie ein glühender Armband an ihrem Handgelenk brannte. Sie spürte, wie es in Resonanz mit der Dunkelheit vibrierte.

„Es ist hier“, sagte Myria leise, als sie einen Riss in der Wand entdeckte. „Dieser Ort wurde als Gefängnis für etwas geschaffen. Etwas, das nicht hierher gehört.“

„Etwas, das die Zeit beeinflusst“, fügte Solan hinzu. „Etwas, das aus der Tiefe der Geschichte gekommen ist.“

Lyra trat vor und legte ihre Hand auf den Riss. Das Artefakt pulsierte stärker. „Wir müssen weitergehen“, sagte sie. „Ich fühle, wie die Zeit sich hier verdichtet.“

Plötzlich öffnete sich der Riss, und ein strahlendes Licht brach hervor. Es war keine normale Helligkeit – es war das Licht der Ewigkeit, das durch die Wände der Zeit selbst brach. Ein tiefes, unheilvolles Flüstern erfüllte den Raum, als sich der Schatten in einer furchtbaren Erscheinung manifestierte.

„Ihr seid zu spät“, dröhnte eine Stimme, die sowohl alt als auch neu klang, als ob sie aus den Tiefen der Geschichte und der Zukunft selbst stammte. „Die Zeit gehört nicht euch. Karthago gehört mir.“

„Du bist nicht die Zeit“, entgegnete Lyra mit fester Stimme. „Du bist ein Teil des Schattens, der die Geschichte verzerrt.“

„Ich bin die Essenz des Vergessens“, sagte die dunkle Macht. „Die Ruinen von Karthago sind der perfekte Ort, um den Schleier der Realität zu zerreißen und die Geschichte neu zu weben.“

„Dann werden wir diesen Schleier zerreißen“, sagte Kai und zog sein Schwert, das sich in dieser Zeit erneut in ein römisches Gladius verwandelt hatte. „Und wir werden die Wahrheit freisetzen.“

„Gemeinsam“, sagte Solan, „werden wir die Dunkelheit besiegen.“

Die Gruppe stürzte sich in den Kampf, das Artefakt in Lyras Hand strahlte mit einer Kraft, die sie nie zuvor gespürt hatte. Die Dunkelheit wehrte sich, doch die vereinte Stärke der Gruppe war stärker als jeder Schatten. Und als der letzte Funken der Dunkelheit erlosch, füllte sich der Tempel mit einem seltsamen, leuchtenden Frieden.

Karthago würde schließlich fallen, doch der wahre Sieg lag nicht im Untergang der Stadt, sondern im Widerstand gegen die Kräfte, die die Zeit selbst manipulieren wollten.

„Es ist vorbei“, sagte Myria, als die Dunkelheit sich verzog und der Himmel sich zu erhellen begann.

„Nicht ganz“, antwortete Lyra. „Denn die Geschichte ist noch nicht geschrieben. Und unsere Reise geht weiter.“

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