Kapitel 53: Der Ruf der Ewigkeit
Die Luft vibrierte, als Mephos’ Worte wie Echos eines längst vergangenen Unheils über das Schlachtfeld hallten. Der Nebel lichtete sich, aber nicht aus Gnade, sondern um das volle Ausmaß des Grauens zu offenbaren. Die Schattenarmee erstreckte sich bis zum Horizont, ein unaufhörliches, pulsierendes Dunkel, das jegliche Hoffnung zu ersticken schien.
Lyra spürte, wie das Artefakt an ihrem Handgelenk erneut pulsierte. Doch diesmal war es anders. Es schien, als würde es nicht nur warnen, sondern auch eine seltsame, uralte Melodie flüstern, die sich mit jedem Herzschlag in ihren Geist brannte. „Hört ihr das?“ fragte sie leise, während ihre Augen auf Mephos fixiert blieben.
Kai nickte knapp. „Es ist eine Erinnerung. Oder vielleicht ein Befehl.“
„Es ist ein Ruf“, ergänzte Seraphine, deren Augen wie pures Licht erstrahlten. „Ein Ruf durch die Zeit.“
Plötzlich begann sich die Umgebung zu verändern. Der Boden unter ihren Füßen bebte, während der Himmel in Farben explodierte, die weder natürlich noch menschlich waren. Die Schlacht, Leonidas und seine Männer, selbst die Schattenwesen – alles wurde zu einem verschwommenen Strom aus Licht und Schatten, der sie wie ein reißender Fluss erfasste.
Die Schlacht von Gaugamela, 331 v. Chr.
Als der Strudel der Zeit nachließ, fanden sie sich auf einem weiten, staubigen Feld wieder. Der heiße Wind trug den Geruch von Schweiß, Blut und Spannung mit sich. Über ihnen wölbte sich ein strahlend blauer Himmel, durchzogen von Adlern, die Kreise über die Köpfe der Armeen zogen. Kai spähte über das Gelände und erkannte es sofort.
„Das ist Gaugamela“, flüsterte er. „Der entscheidende Kampf zwischen Alexander dem Großen und Darius III.“
Lyra sah sich um. Die Armeen standen sich in perfekter Formation gegenüber. Alexanders makedonische Phalanx leuchtete in goldener Rüstung, ihre Speere glänzten im Sonnenlicht. Gegenüber standen die persischen Reihen, deren schiere Zahl die Luft mit einem Gefühl der Unendlichkeit füllte.
Ihre Kleidung hatte sich verändert. Kai trug nun die Rüstung eines makedonischen Generals, Lyra einen schlichten, aber kunstvoll gearbeiteten Brustpanzer mit einem Wappen, das sie nicht erkannte. Seraphine war in ein weißes, lichtdurchlässiges Gewand gehüllt, das von mystischen Symbolen durchzogen war, während Solan eine dunkle, lederne Rüstung trug, die an einen Schattendieb erinnerte.
„Wir sind nicht zufällig hier“, sagte Solan, seine Augen scharf wie ein Falke. „Das Artefakt führt uns. Aber wozu?“
Ein Bündnis mit Alexander
Eine Gestalt auf einem prächtigen Pferd ritt heran, flankiert von Wachen. Alexander der Große selbst – jugendlich, entschlossen, mit Augen, die den Himmel und die Erde gleichermaßen herauszufordern schienen.
„Fremde“, begann er, und seine Stimme hatte eine magnetische Autorität. „Ihr seid keine Krieger meines Reiches, und doch sehe ich die Zeichen der Götter in euren Augen. Seid ihr Verbündete oder Feinde?“
Kai trat vor, verbeugte sich leicht. „Wir sind Verbündete, Großkönig. Und wir sind hier, um zu helfen.“
Alexander betrachtete sie mit einem durchdringenden Blick, dann nickte er. „Die Götter haben mich gewarnt, dass die Schlacht von mehr als nur sterblichem Mut abhängt. Wenn ihr tatsächlich Verbündete seid, zeigt es im Kampf.“
Plötzlich stieg das Artefakt an Lyras Hand in die Höhe, formte sich um und wurde zu einem Amulett, das sie um ihren Hals legte. Es leuchtete kurz auf, und die Zeit selbst schien zu knistern.
Der Schattenangriff
Noch bevor die makedonischen und persischen Heere aufeinanderprallen konnten, schoss ein Widerschein von Dunkelheit über das Feld. Mephos erschien erneut, seine Präsenz wie ein schwerer Vorhang, der das Licht erstickte.
„So schnell gebt ihr nicht auf“, zischte er. „Aber das hier ist nicht euer Krieg. Und ihr werdet hier enden.“
Mit einem Schwung seiner Hand riss er eine Wunde in die Zeit selbst. Schattenwesen strömten daraus hervor und stürzten sich auf die überraschten Soldaten beider Seiten. Chaos brach aus, die disziplinierten Formationen zerfielen.
Lyra schrie auf. „Wir können nicht zulassen, dass er die Geschichte zerstört!“
„Dann lasst uns handeln!“ rief Kai und warf sich mit einem gewaltigen Sprung in die Reihen der Schattenwesen.
Alexander, dessen Männer kurzzeitig von Panik ergriffen waren, hob sein Schwert und brüllte: „Steht fest, Männer! Kämpft, wie es den Göttern gefällt!“
Die Rückkehr der Zeitwächter
Inmitten des Getümmels erschien eine neue Gruppe von Kriegern. Ihre Rüstungen und Waffen schimmerten in Regenbogenfarben, als ob sie direkt aus der Zeit selbst geschmiedet worden wären.
„Das sind die Zeitwächter“, flüsterte Seraphine ehrfürchtig. „Sie bewahren die Geschichte vor Verfälschung.“
Die Anführerin der Wächter trat vor, eine Frau mit silbernem Haar und Augen, die wie der Ozean funkelten. „Ihr habt euch gut geschlagen, Reisende“, sagte sie, ihre Stimme wie das Flüstern eines Wasserfalls. „Aber Mephos darf nicht hier bleiben. Wir brauchen eure Hilfe.“
„Was ist der Plan?“ fragte Kai, der bereits mit Schweiß bedeckt war.
„Wir müssen ihn in die Zeitschleife zurückdrängen, aus der er kam“, erklärte sie. „Doch dazu braucht es die Kraft aller Artefakte.“
Lyra griff nach dem Amulett an ihrem Hals, und ein Wissen, das nicht ihr eigenes war, strömte in ihren Geist. „Ich weiß, was zu tun ist.“
Ein Moment der Ewigkeit
Während die Schlacht tobte, sammelten Lyra und ihre Gefährten ihre Kräfte. Myria beschwor dichten Nebel, der das Chaos durchdrang und den Schattenwesen die Sicht raubte. Seraphine sandte goldene Lichtbögen aus, die die Dunkelheit durchdrangen, während Isolde die Verletzten heilte und die Moral hob.
Lyra stellte sich Mephos direkt entgegen, das Artefakt in ihrer Hand pulsierend wie ein Herz. „Du kannst die Zeit nicht kontrollieren“, sagte sie fest. „Du bist nicht unsterblich. Du bist nur ein Schatten.“
Mit einem letzten, mächtigen Schlag verbanden sie ihre Kräfte mit denen der Zeitwächter. Ein Riss öffnete sich, und Mephos wurde schreiend in die Zeitschleife zurückgezogen.
Ein veränderter Ort
Als die Dunkelheit verschwand, kehrte die Schlacht von Gaugamela in ihren natürlichen Lauf zurück. Die makedonischen und persischen Soldaten nahmen ihre Plätze ein, als wäre nichts geschehen. Doch für Lyra und ihre Gefährten war alles anders.
„Das war… intensiv“, murmelte Kai und ließ sein Schwert sinken.
Alexander trat erneut an sie heran. „Ihr seid keine gewöhnlichen Sterblichen. Doch was auch immer ihr seid, ihr habt mir und meinem Reich heute geholfen. Ihr habt meinen Dank.“
Lyra nickte, ein müdes Lächeln auf den Lippen. „Unsere Reise ist noch nicht vorbei.“
Und mit diesen Worten begann das Artefakt erneut zu leuchten, bereit, sie in eine neue Zeit zu führen.