Kapitel 49: Im Wind der Epochen
Der Boden unter Lyras Füßen bebte, als die Zeitenwellen erneut auf sie zurollten. Der Kristall in ihrem Armband pulsierte, und für einen Moment schien der ganze Raum in flimmernden Farben zu verschwimmen. „Bereit?“, fragte Lyra, ihre Stimme ruhig, obwohl das Unbekannte vor ihnen lag. Die anderen nickten, und in ihren Augen spiegelte sich der Mut, den sie auf diesem gefährlichen Pfad gefunden hatten.
„Die Schlacht von Draegor wird nicht das einzige Ereignis sein, das wir beeinflussen müssen“, sagte sie und hob das Artefakt hoch. Es leuchtete in einem geheimnisvollen Goldton und veränderte sich im Moment der Zeitreise – von einem einfachen Armband zu einer Kette, die in den Lüften zu tanzen schien. Ein sanfter Wind wehte, und ihre Kleidung passte sich nahtlos der neuen Zeit an. Für Lyra war es, als würde sie das Gewicht von Jahrhunderten tragen, als die Zeit sie zurück ins Jahr 431 v. Chr. trug.
„Athen“, flüsterte Seraphine, die das bekannte Antlitz der Stadt am Horizont entdeckte. „Die Stadt des Wissens. Die Zeit des Perikles.“
Sie standen auf einer Hügelspitze, die den weiten Blick auf Athen freigab. Der Tempel des Zeus ragte majestätisch in den Himmel, und das Parthenon glänzte in der Dämmerung. Es war eine Zeit des großen Fortschritts, des Denkens, des Krieges und der Macht. Doch auch Athen, in seiner Pracht, war von einem Konflikt überschattet, der das Schicksal Griechenlands besiegeln würde.
„Die Peloponnesische Kriege“, sagte Myria leise, als sie die beeindruckenden Streitkräfte der Athener und Spartaner entdeckte, die sich auf der Ebene gegenüber standen. „Ein Wendepunkt in der Geschichte Griechenlands. Aber auch hier…“ Sie zog ihre Handflächen zusammen, und ein Nebel waberte zwischen ihren Fingern. „Die Wellen der Zeit haben einen neuen Kurs eingeschlagen.“
„Alaric wird nicht der einzige sein, den wir treffen“, sagte Lyra, als sie das Schlachtfeld betrachtete. Ihre Augen verengten sich, als sie die Krieger in die Ferne sahen. „Dieser Konflikt hat ebenso weitreichende Konsequenzen. Ich spüre es. Der Einfluss dieser Kriege wird sich bis in die Zeit des Kaiserreichs von Rom ausdehnen und selbst bis in die Moderne reichen.“
„Und was können wir tun, um das zu ändern?“, fragte Sira, die sich bereits in eine wehrhafte Haltung versetzt hatte. Die Fähigkeit zur Verwandlung war ihr in dieser turbulenten Zeit von unschätzbarem Wert, denn sie konnte jederzeit in ein Tier schlüpfen, um sich oder ihre Gefährten zu schützen.
„Es ist nicht nur der Kampf, der zählt“, antwortete Lyra. „Es sind die Entscheidungen, die hier getroffen werden. Athen, Sparta, Persien, Rom – all diese Reiche stehen in einer zerbrechlichen Balance. Ein falscher Schritt und alles wird in den Abgrund stürzen.“
Plötzlich flackerte ein neues Bild in den Kristallen, das die Gruppe erneut in eine andere Epoche zog. Der Himmel verdunkelte sich und eine mächtige Armee von Kriegern, die sich bis zum Horizont erstreckte, erschien vor ihnen. Sie waren in einer anderen Ära angekommen, im Jahr 529 n. Chr., zur Zeit des großartigen byzantinischen Reiches, unter der Herrschaft von Kaiser Justinian I.
„Konstantinopel“, murmelte Myria, als sie die imposanten Mauern und Türme der Stadt erblickte. „Ein weiteres Zentrum der Macht. Ein weiterer Schlüssel, der unser Schicksal beeinflussen kann.“
„Hier herrscht ein Kaiser, dessen Vision das Imperium in neue Höhen führen will“, sagte Lyra. „Aber er ist auch von Feinden umzingelt, sowohl innerlich als auch äußerlich. Wir müssen verstehen, was die Mächte hinter den Kulissen antreibt, um den Lauf der Geschichte zu ändern.“
Solan, der bisher schweigsam gewesen war, trat vor und blickte auf die weiten Straßen der Stadt, die von Marktständen und lauten, lebendigen Menschen bevölkert waren. „Wir müssen das Gleichgewicht der Macht finden“, sagte er nachdenklich. „Denn die alten Götter spielen ihr eigenes Spiel, und wir können nicht zulassen, dass ihre Einflüsse das Schicksal des Reiches bestimmen.“
„Aber auch die politischen Intrigen dieser Zeit sind gefährlich“, fügte Sira hinzu. „Kaiser Justinian kämpft nicht nur gegen äußere Bedrohungen, sondern auch gegen seine eigenen Minister, die ihren eigenen Einfluss ausbauen wollen.“
„Das ist der Punkt“, sagte Lyra. „Es sind die unsichtbaren Hände, die die Welt lenken. Was auch immer in Konstantinopel geschieht, wird Auswirkungen auf ganz Europa und die Zukunft der Zivilisation haben.“
Die Gruppe bewegte sich durch die Straßen der Stadt, in ihre Umgebung eingefügt wie Schatten, während die Zeitenwellen um sie herum zogen. Die Kleidung der Gefährten war nun an die byzantinische Mode angepasst. Lyra trug ein langes, mit goldenen Verzierungen besetztes Kleid, das an die eleganten Gewänder der kaiserlichen Hofgesellschaft erinnerte. Der Armband, der sich nun zu einer silbernen Kette gewandelt hatte, glänzte im sanften Licht des Sonnenuntergangs.
„Myria“, sagte Lyra leise, „du musst uns führen. Dein Nebel könnte uns durch die politischen Fallstricke dieser Stadt bringen.“
„Ich verstehe“, antwortete Myria mit einem geheimnisvollen Lächeln. Ihre Hände begannen zu flimmern, und ein Nebel zog sich um sie, der die Gruppe in eine dichte Dunkelheit hüllte. Bald konnten sie sich unbemerkt durch die Straßen bewegen.
„Was ist das für ein Gefühl?“, fragte Seraphine, als sie die unsichtbaren Energien spürte, die die Luft durchzogen. „Die Götter… sie sind uns näher als je zuvor.“
„Und das ist unsere Chance“, sagte Lyra, als sie durch den Nebel hindurch in den Palast von Justinian eintrat. „Dies ist der Ort, an dem wir den Verlauf der Geschichte ändern müssen.“
Doch auch in dieser Zeit, voller politischer Intrigen und göttlicher Mächte, gab es Kräfte, die die Gruppe nicht aufhalten wollten. Es war die Zeit der Schatten, und die Dunkelheit hatte längst begonnen, sich in das Reich zu schleichen.
Die Geschichte der Völker, die in die Innere Welt geflüchtet waren, begann sich nun zu zeigen. In der Dunkelheit von Konstantinopel, jenseits der sichtbaren Welt, gab es Verbündete, die in der Stille agierten. Mephos, der dunkle Regent, hatte seine Finger in den Geschicken der Welt – und er wusste, dass die Zeitenwellen sich näherten.
„Der Schlüssel ist bald gefunden“, flüsterte er, als er in den Schatten der Stadt verschwand. „Doch der wahre Kampf steht noch bevor.“