Kapitel 46: Der Tempel von Ysmir

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Kapitel 46: Der Tempel von Ysmir

Lyra spürte die Kälte des Obsidianwaldes, die nun wie ein drückender Mantel über ihnen lag. Der Nebel war dichter geworden, und mit jedem Schritt, den sie setzten, schien die Dunkelheit mehr von ihnen Besitz zu ergreifen. Es war, als ob der Wald sie langsam verschlang, ihre Gedanken und Gefühle in seine endlose Weite einsog. Die leisen Stimmen des Waldes flüsterten in ihren Köpfen, zogen an ihren Ängsten und Unsicherheiten, forderten sie heraus, sich ihren eigenen Schatten zu stellen.

„Seid vorsichtig“, murmelte Myria, ihre Augen blickten durch den Nebel, als ob sie die unsichtbaren Fäden der Dunkelheit sehen konnte, die sie umhüllten. „Der Wald sieht mehr, als wir wissen.“

„Er ist der Spiegel“, sagte Lyra und sah auf den dunklen Pfad vor ihnen. „Und wir sind die, die ihn füllen müssen.“

Sie spürte Solans Hand auf ihrem Rücken, fest und beruhigend. „Wir gehen weiter, bis wir Antworten haben“, sagte er. „Es gibt kein Zurück.“

Der Obsidianwald öffnete sich vor ihnen, und der Tempel von Ysmir erschien in der Ferne, wie eine düstere Silhouette im Nebel. Doch er war nicht mehr der Ort, an den sie sich aus ihren Erinnerungen erinnerten. Früher war der Tempel ein majestätisches Bauwerk, das in goldenen und silbernen Farben erstrahlte, doch jetzt wirkte er verdunkelt, als ob die Sonne nie wieder über ihm aufgegangen wäre. Die Mauern des Tempels waren aus schwarzem Obsidian, dessen glänzende Oberfläche wie das tiefste Meer glänzte, und die Türme, die einst von einer geheimen Energie durchzogen waren, standen nun wie stumme Wächter, deren Blicke die Gruppe schweigend verfolgten.

Om 25

„Es ist anders“, flüsterte Seraphine und trat näher. Ihre Augen glänzten mit einer Mischung aus Angst und Faszination. „Es fühlt sich an, als ob der Tempel… sich selbst verändert hat.“

„Der Ort hat sich den Erinnerungen derer angepasst, die ihn betreten“, sagte Myria, die ihre Fähigkeiten als Meisterin der Nebel nutzte, um die Atmosphäre zu durchdringen und einen Blick auf die sich verändernde Struktur des Tempels zu werfen. „Hier hat sich die Zeit auf unheilvolle Weise verdichtet. Aber auch wir sind anders, als wir es einmal waren. Was wir hier finden, wird uns fordern.“

„Wenn das der Ort ist, an dem alles begann, dann müssen wir ihn zu Ende bringen“, sagte Solan ruhig und ließ seinen Blick auf dem dunklen Eingang ruhen. „Der Tempel von Ysmir ist unser letzter Schritt.“

Die Gruppe trat vorsichtig voran, der Nebel zog sich immer dichter um sie. Die Tore des Tempels öffneten sich mit einem heiseren Knarren, als wären sie schon lange nicht mehr berührt worden. Der Raum dahinter war in völlige Dunkelheit gehüllt, und der Boden schien von einer fremden, fast lebendigen Energie durchzogen zu sein. Es war, als ob der Tempel selbst atmende Schatten warf.

„Was ist das für ein Gefühl?“ fragte Sira, die sich in die Gestalt eines schneeweißen Wolfs verwandelt hatte, um ihren schärferen Instinkten zu folgen.

„Es ist, als ob der Tempel uns ruft“, sagte Lyra, und ihre Stimme war von einer unerklärlichen Schwere durchzogen. „Es fühlt sich an, als ob der Tempel uns erwartet.“

Langsam betraten sie den Innenraum, die Dunkelheit schien sie zu umhüllen. Und dann, plötzlich, flammte ein schwaches, grünes Licht in der Ferne auf – wie das Glühen eines verlorenen Sterns. Lyra schritt darauf zu, der Rest der Gruppe folgte ihr in einer stillen, ungesagten Einigkeit.

Als sie sich dem Licht näherten, erkannten sie die Quelle. Ein riesiger Kristall, von einem schwarzen Netz aus Ranken umgeben, erhob sich aus dem Boden und strahlte eine unheimliche, pulsierende Energie aus. Der Kristall war nicht wie der, den sie zuvor in den Höhlen von Agramar gefunden hatten. Dieser war lebendig, ein Wesen aus reiner Dunkelheit, das die Essenz des Tempels selbst zu enthalten schien.

„Der Kern des Tempels“, flüsterte Seraphine, die ihre Visionen vertiefte, um mehr zu erfahren. „Er ist nicht nur der Ursprung des Ortes. Er ist das Tor zu allem, was hier geschah – zu all den Entscheidungen, die wir getroffen haben.“

„Und was erwartet uns hinter diesem Tor?“ fragte Solan, seine Stimme war ruhig, doch in seinen Augen brannte die Entschlossenheit.

„Alles“, sagte Myria, und ihre Augen glühten, als sie das Wissen des Nebels in sich aufnahm. „Die Wahrheit, die wir suchen, aber auch die Dunkelheit, vor der wir uns am meisten fürchten.“

Plötzlich öffnete sich das Licht des Kristalls wie ein Portal, und vor ihren Augen entfaltete sich ein neuer Raum – eine weite, leere Ebene, die in der Dunkelheit schimmerte. Doch in der Mitte dieser Ebene erhob sich eine gewaltige Gestalt, die wie ein Schatten aus den Tiefen der Zeit selbst schien. Es war ein Wesen aus reinem Licht und Dunkelheit, ein Spiegel ihrer eigenen Seelen.

„Ihr seid gekommen“, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die durch die Luft hallte. „Doch seid ihr bereit, die Wahrheit zu akzeptieren, die euch hierher geführt hat?“

„Was ist die Wahrheit?“ fragte Lyra, ihre Stimme fest, obwohl ihr Inneres von einer unerklärlichen Angst durchzogen war.

„Die Wahrheit, die ihr sucht, liegt nicht nur im Außen“, antwortete das Wesen. „Sie ist in euch selbst. Denn der Tempel von Ysmir ist nur der Spiegel dessen, was ihr bereit seid zu sehen. Und was ihr bereuen werdet, wenn ihr den Preis nicht zu zahlen bereit seid.“

„Wir sind bereit“, sagte Solan, und seine Stimme trug die Härte einer Entscheidung. „Denn wir haben keine Wahl. Wir gehen weiter, bis wir wissen, was vor uns liegt.“

„Der Preis ist hoch“, flüsterte die Gestalt, und ihre Augen leuchteten in einem unergründlichen Glanz. „Aber in diesem Moment könnt ihr wählen – bleibt ihr, wo ihr seid, oder tretet ihr in das Unbekannte?“

Die Gruppe stand schweigend, jeder für sich in Gedanken versunken. Und in diesem Moment, in dem der Nebel des Obsidianwaldes sich in den Kristallen des Tempels auflöste, wusste Lyra, dass sie keine Antwort mehr zu geben brauchten. Die Wahrheit war der Weg, den sie längst eingeschlagen hatten.

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