Kapitel 45: Der Pfad der Schatten

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Lesedauer 4 Minuten

Kapitel 45: Der Pfad der Schatten

Lyra spürte, wie der Boden unter ihren Füßen nachgab, als der Kristall und seine dunklen Schatten sich tiefer in die unheimliche Dimension zogen. Die Kristallhöhlen von Agramar, die ihnen früher vertraut waren, wirkten nun fremd und verformt, als ob sie sich nicht nur in der Zeit, sondern auch in der Bedeutung selbst verzerrt hätten. Der Boden unter ihren Füßen knirschte wie Asche, und die schwarzen Kristalle, die einst in allen Farben schimmerten, glühten nun in einem düsteren, bedrohlichen Glanz. Sie konnte die Geister der Verstorbenen förmlich spüren, die in den Wänden gefangen waren, doch ihre Präsenz schien nun eine unheilvolle Schwere zu tragen, als ob sie sich selbst verloren hätten.

„Es fühlt sich an, als ob die Zeit hier nicht mehr existiert“, sagte Kai, während er einen Schritt in den Raum tat und sich umblickte. „Alles ist verändert. Es ist, als ob der Ort selbst nach Antworten sucht.“

„Ja“, antwortete Lyra und zog ihre Hand von der Kristallwand zurück. „Dieser Ort ist ein Spiegel, der uns mehr zeigt, als wir ertragen können. Die Dunkelheit, die wir bekämpfen, ist nicht nur von außen. Sie lebt auch in uns, und der Tempel kennt die Wahrheit, die wir uns nicht eingestehen wollen.“

„Und trotzdem können wir nicht entkommen“, fügte Solan hinzu, seine Stimme ruhig, aber fest. „Jeder Schritt, den wir gehen, bringt uns näher an das, was uns erwartet. Es gibt kein Zurück.“

Sie setzten ihren Weg fort, der von den Wänden der Kristallhöhlen gesäumt war, deren unheimliche Silhouetten im Dämmerlicht tanzten. In der Ferne, hinter einem Bogen aus schimmerndem Kristall, erhob sich der Obsidianwald – ein düsterer, geisterhafter Wald, dessen Bäume schwarze Stämme hatten, die sich wie Ranken in die Dunkelheit schlangen. Die Sonne, die einst den Wald erhellt hatte, war längst verflogen, und der Wald schien für immer in der Finsternis zu verweilen.

„Der Obsidianwald“, murmelte Seraphine, als sie den Wald am Horizont erblickte. „Ich hatte Visionen von diesem Ort. Aber er ist nicht, wie ich ihn mir vorgestellt habe.“

„Kein Ort in dieser Dimension ist, wie er scheint“, sagte Myria, ihre Augen auf den Nebel gerichtet, der langsam aus den Tiefen des Waldes kroch. „Und ich weiß nicht, ob das, was uns dort erwartet, unsere Wünsche erfüllt oder unsere Ängste entlässt.“

„Das ist der wahre Grund, warum wir hier sind“, sagte Sira, ihre Stimme durch die Nacht hallend, während sie sich in die Gestalt eines schwarzen Panthers verwandelte. „Dieser Wald ist ein Test – und nicht jeder, der ihn betritt, kommt wieder heraus.“

Om 25

„Dann sind wir wohl schon zu tief in diesem Spiel“, antwortete Lyra. „Es gibt keine Rückkehr mehr, nur der Weg nach vorn.“

Der Wald war eine Stille, die sie fast ersticken ließ. Die Bäume, mit ihren schwarzen Stämmen, schienen lebendig zu sein, als ob sie mit jedem Schritt der Gruppe ihre Bewegungen nachahmten. Doch was sie als Stille empfanden, war in Wahrheit eine drückende Erwartung. Jeder von ihnen wusste, dass dieser Ort nicht nur die Dunkelheit widerspiegelte, sondern auch das, was sie tief in ihrem Inneren trugen – ungelöste Ängste, unerfüllte Sehnsüchte und die Wahrheit, die sie nie gewagt hatten, sich selbst zu stellen.

„Wir müssen weiter“, sagte Solan, als sie einen schmalen Pfad entlanggingen, der sich durch die Bäume schlängelte. „Wir haben keine Wahl.“

„Es gibt immer eine Wahl“, entgegnete Seraphine nachdenklich. „Aber vielleicht ist es die Wahl, die wir nicht treffen wollen, die uns hierher geführt hat.“

„Der Tempel ist der Spiegel“, sagte Lyra und starrte in die Dunkelheit des Waldes. „Und wir sind die, die sich im Spiegel erkennen müssen.“

Die Gruppe bewegte sich tiefer in den Obsidianwald hinein, und je weiter sie gingen, desto intensiver wurde das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Nebel umhüllte sie, zog sich wie ein Schleier über den Boden und verschlang alles um sie herum. In der Ferne hörten sie das leise Rascheln von Blättern, das sich plötzlich in ein tiefes, geisterhaftes Wispern verwandelte, das in ihren Köpfen widerhallte.

„Wer ist da?“ rief Lyra, ihre Hand griff nach ihrem Schwert.

„Es sind die Geister des Waldes“, flüsterte Sira, deren Panthergestalt in der Dunkelheit verschwand. „Sie haben die Zeit und die Erinnerungen derer, die diesen Ort betreten haben, in sich aufgenommen.“

„Und was wollen sie von uns?“ fragte Myria, ihre Stimme angespannt.

„Sie wollen, dass wir uns erkennen“, sagte Lyra. „Denn dieser Ort kennt uns besser als wir uns selbst.“

Plötzlich trat eine dunkle Gestalt aus dem Nebel. Sie war in einen schwarzen Umhang gehüllt, ihre Augen leuchteten wie zwei grüne Sterne in der Dunkelheit. Es war eine Frau, deren Gesicht von einer unheimlichen Ruhe geprägt war, doch ihre Präsenz war von einer fast greifbaren Macht durchzogen.

„Ihr seid gekommen“, sagte sie, ihre Stimme ein sanftes, aber durchdringendes Flüstern. „Und ihr habt den ersten Schritt gemacht. Aber was ist mit dem nächsten? Was wollt ihr wirklich finden?“

„Wir suchen die Wahrheit“, antwortete Lyra, obwohl sie spürte, wie der Boden unter ihren Füßen zu schwanken begann.

„Die Wahrheit hat viele Gesichter“, sagte die Frau mit einem Lächeln, das mehr wie eine Warnung klang. „Doch nicht alle, die sie sehen, sind bereit für das, was sie erfahren. Der Obsidianwald bietet Antworten, aber er nimmt auch. Wisst, was ihr bereit seid zu verlieren.“

„Und was, wenn wir den Preis nicht bezahlen wollen?“ fragte Seraphine, ihre Augen von Besorgnis getrübt.

„Dann bleibt ihr hier, für immer“, antwortete die Frau, und plötzlich waren ihre Augen von einem unheimlichen Glanz durchzogen. „Im Obsidianwald gibt es keine Flucht vor dem, was ihr nicht erkannt habt. Der Wald hat die Macht, euch in seiner Dunkelheit zu binden, bis ihr euch selbst verliert.“

„Wir werden den Preis bezahlen“, sagte Solan ruhig. „Denn wir haben keine Wahl. Die Dunkelheit, die wir suchen, wird uns die Antwort geben, die wir brauchen.“

Die Frau nickte, und in diesem Moment brach der Nebel auseinander, und der Obsidianwald weitete sich in eine weite, endlose Ebene aus. In der Ferne konnte man die Umrisse eines Tempels erkennen, dessen dunkle Mauern von einer unheimlichen Energie durchzogen waren. Der Tempel von Ysmir.

„Es ist der Tempel von Ysmir“, flüsterte Lyra. „Der Ort, an dem alles begann. Und der Ort, an dem wir unser Schicksal erkennen müssen.“

Mit entschlossenen Schritten setzten sie ihren Weg fort, den letzten Schritt in das Labyrinth der Erinnerungen.

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