Kapitel 44: Das Labyrinth der Erinnerungen
Der Kristall, der das Zentrum des Raumes erleuchtet hatte, begann langsam zu verblassen, als Lyra ihre Hand nach ihm ausstreckte. Das flimmernde Licht schwand und ließ den Raum in eine dichte Dunkelheit zurück, die beinahe greifbar war. Doch in dieser Dunkelheit lag etwas Neues, etwas, das sich aus den Schatten herauszuziehen schien. Ein leises, pulsierendes Geräusch war zu hören, als ob der Tempel selbst atmete, als ob er sie beobachtete.
„Es ist, als ob der Tempel sich verändert hat“, sagte Kai und trat neben Lyra. „Die Wände… sie bewegen sich.“
„Die Dunkelheit ist nicht nur ein Teil des Tempels“, sagte Solan nachdenklich. „Sie ist ein Teil von uns. Ein Teil unserer Erinnerungen, unserer Ängste.“
„Und was ist mit den Visionen?“ fragte Seraphine, die immer noch starr auf die leeren, jetzt wieder flimmernden Wände starrte. „Was sie uns zeigen, ist mehr als nur die Vergangenheit. Es ist, als ob sie die Zukunft berühren.“
„Der Tempel ist ein Labyrinth“, sagte Lyra leise. „Ein Labyrinth der Erinnerungen und der Zeit. Aber wir müssen vorsichtig sein. Der Weg, den wir wählen, wird uns verändern, nicht nur die Welt um uns.“
In diesem Moment begann der Raum sich zu verformen. Die Wände, die zuvor in ihren schimmernden Farben gefangen waren, zogen sich zusammen, als ob sie sich einem unsichtbaren Befehl beugten. Die Sterne am Himmel, die an den Wänden tanzten, begannen zu bluten, ihre Lichtbahnen zerflossen, und es war, als ob der Raum in sich zusammenfiel. Der Kristall, der immer noch in der Mitte des Raumes schwebte, begann nun, dunkle Schatten zu werfen, die wie Ranken die Wände hinaufkletterten.
„Es ist zu spät, zurückzukehren“, sagte Sira, deren schwarze Panthergestalt fast eins mit der Dunkelheit wurde. Ihre Stimme war ruhig, aber auch von einer unheimlichen Schärfe durchzogen. „Wir sind an einem Punkt ohne Rückkehr. Nur vorwärts führt uns noch etwas.“
„Was, wenn es eine Falle ist?“ fragte Myria, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie blickte auf das Podest, auf dem der Kristall schwebte, als würde sie in die Tiefe des Tempels blicken, um zu entschlüsseln, was sich dort verbarg.
„Es gibt keine Falle, Myria“, antwortete Lyra, ihre Augen fest auf den Kristall gerichtet. „Es gibt nur uns und die Dunkelheit, die uns fordert, die Wahrheit zu erkennen.“
„Und wenn wir sie nicht finden?“ fragte Seraphine, ihre Augen in einem Anflug von Besorgnis weicher. „Was, wenn der Preis für diese Wahrheit zu hoch ist?“
„Dann zahlen wir den Preis“, sagte Solan fest. „Denn diese Dunkelheit… sie wird uns nicht besiegen.“
Das Rauschen der Veränderungen wurde lauter, als sich der Raum endgültig in ein neues Bild verwandelte. Vor ihnen, an einem Ort, den sie nur allzu gut kannten, erstreckte sich die weite Ebene der Kristallhöhlen von Agramar. Doch etwas war anders. Der Boden war mit einer dicken Schicht aus Asche bedeckt, und die Kristalle, die in allen Richtungen emporragten, schimmerten nun in einem unheimlichen, schwarzen Glanz. Überall in den Höhlen hingen silberne Fäden, die wie Geister durch den Raum glitten.
„Es ist der Ort, an dem alles begann“, sagte Lyra, ihre Stimme von einem bitteren Hauch der Erinnerung getragen. „Aber er ist jetzt ein Teil von uns, ein Teil der Dunkelheit.“
„Und der Tempel hat uns hierhergeführt“, fügte Kai hinzu, als er langsam durch den Raum ging. „Aber warum? Was sollen wir hier finden?“
„Vielleicht sind es die Geister der Verstorbenen, die uns den Weg weisen“, sagte Sira, ihre Panthergestalt huschte durch die Höhlen. „Sie haben uns immer schon beobachtet. Und sie wissen mehr, als wir glauben.“
Plötzlich tauchte eine Gestalt aus dem Nebel auf, ihre Umrisse unscharf, doch ihre Präsenz war unbestreitbar. Es war ein Mann, umhüllt von dunklem, flimmerndem Licht, dessen Augen in der Dunkelheit glühten.
„Ihr seid gekommen“, sagte die Gestalt, ihre Stimme ein Wispern, das die Luft zum Vibrieren brachte. „Ihr habt den Weg gefunden, aber er führt euch nicht zu dem, was ihr erwartet. Der Tempel ist der Spiegel, aber der Spiegel ist verzerrt. Ihr werdet die Wahrheit sehen, aber die Wahrheit hat viele Gesichter.“
„Wer bist du?“ fragte Lyra, ihre Hand fest um den Griff ihres Schwertes geschlossen.
„Ich bin nur ein Teil von dem, was dieser Ort bewahrt“, antwortete die Gestalt. „Und ihr seid die Auserwählten, die das Labyrinth durchdringen müssen. Aber seid gewarnt. Nicht alle Wege führen nach vorn. Manche führen zurück, und nicht alle Rückkehrer kommen heil zurück.“
„Wir haben keine Wahl“, sagte Solan ruhig. „Der Weg, den wir wählen, wird uns zu dem führen, was wir suchen. Oder zu dem, was wir befürchten.“
Die Gestalt trat einen Schritt zurück, und als sie sich bewegte, löste sie sich in einem Nebel auf, der sich in den Wänden der Kristallhöhlen zu verlieren schien. Die Gruppe stand nun allein, umgeben von den sich drehenden Schatten der Vergangenheit und Zukunft, die durch den Tempel gezogen wurden.
„Wir müssen uns entscheiden“, sagte Lyra. „Die Sterne mögen uns führen, aber wir müssen den letzten Schritt tun. Die Dunkelheit ist nicht nur unser Feind. Sie ist ein Teil von uns. Und wenn wir sie nicht akzeptieren, werden wir uns selbst verlieren.“
„Und was, wenn der Preis zu hoch ist?“ fragte Myria.
„Dann werden wir den Preis bezahlen“, antwortete Lyra entschlossen. „Denn was wir hier finden, wird uns die Antwort geben. Und die Antwort ist der Schlüssel zu unserer Zukunft.“
Mit einem letzten Blick auf die sich windenden Kristalle und die Schatten, die die Höhlen bevölkerten, trat die Gruppe weiter in das Labyrinth. Doch jeder Schritt, den sie tat, ließ sie tiefer in das Gewebe der Zeit eintauchen, und die Dunkelheit, die ihnen folgte, war nicht nur der Tempel. Sie war die Dunkelheit, die in jedem von ihnen wohnte.