Kapitel 43: Der Tempel und die Sterne
Der Eingang des Tempels schloss sich hinter ihnen mit einem dumpfen Knall, der die Dunkelheit durchbrach und sie in absolute Stille hüllte. Lyra konnte die Schwere der Luft spüren, die sich um sie legte, als sie einen Schritt nach dem anderen in den inneren Raum des Tempels setzte. Der Raum war kaum erleuchtet, nur schwache, flackernde Lichter, die wie schwebende Sternenstaubpartikel im Raum tanzten, brachten die Schatten in Bewegung. Ihre Schritte hallten in der weiten Leere wider, und es schien, als ob der Tempel ein lebendiges Wesen war, das sie mit jedem Schritt beobachtete.
„Es fühlt sich… fremd an“, sagte Kai und hielt inne. Seine Hand glitt über die kalte Wand aus Obsidian, und für einen Moment schien die Wand selbst zu atmen, als würde sie auf seine Berührung reagieren.
„Es ist der Ort, an dem alles begann“, sagte Lyra leise, fast als würde sie zu sich selbst sprechen. „Der Tempel von Ysmir, verborgen tief unter der Erde, zwischen den Sternen und der Dunkelheit. Aber er ist nicht mehr der gleiche wie zuvor. Die Zeit hat sich verändert, und mit ihr der Tempel.“
Solan trat neben sie. „Du meinst, die Dunkelheit hat ihren Einfluss auf diesen Ort ausgeübt. Es ist, als ob er sich selbst neu formiert hätte.“ Er blickte in die Tiefen des Raumes, als würde er die Dunkelheit selbst entschlüsseln wollen. „Aber was erwartet uns hier? Was müssen wir finden?“
„Die Antwort liegt in den Sternen“, antwortete Lyra, während sie den Blick auf die Wände richtete. „Der Tempel ist ein Ort des Wissens, und die Sterne haben uns hierher geführt. Doch wir müssen die Dunkelheit durchdringen, um zu verstehen, was in uns verborgen liegt.“
Myria trat vor, ihre Augen schimmerten im schwachen Licht. „Der Nebel, der den Tempel umhüllt, ist nicht nur der Nebel der Welt. Er ist der Nebel unserer eigenen Erinnerungen. Alles, was wir vergessen haben, ist hier.“
„Und alles, was wir nicht loslassen können“, fügte Seraphine hinzu. Ihre Stimme war ruhig, aber in ihren Augen war ein unheimliches Glühen. „Was auch immer hier auf uns wartet, es ist mehr als nur ein Ort. Es ist ein Spiegel.“
Die Gruppe ging weiter, der Raum schien sich mit jeder Bewegung zu verändern, als ob er sich selbst neu entwarf. Über ihnen, hoch oben in der Dunkelheit, erblickten sie den schwachen Glanz von Sternen, die in sanften Bahnen über die Wände zogen. Doch die Sterne waren nicht die gleichen, die sie kannten. Sie flimmerten und verschmolzen miteinander, ihre Muster waren chaotisch und undurchschaubar.
„Wir sind nicht mehr in der Welt, wie wir sie kennen“, sagte Lyra und spürte die Veränderung in der Luft. „Wir sind an einem Ort, an dem alles miteinander verflochten ist. Der Raum, die Zeit, die Erinnerungen… sie existieren nicht getrennt. Sie sind eins.“
„Ein Labyrinth aus Erinnerung und Dunkelheit“, murmelte Sira und schlich voraus, ihre Gestalt verwandelte sich in die eines Schattens, als sie durch den Raum glitt. „Wir müssen vorsichtig sein. Dieser Ort ist nicht nur ein Test für unseren Verstand, sondern auch für unsere Herzen.“
Sie hielten an einem weiteren Tor, das sich vor ihnen öffnete. Der Raum dahinter war noch düsterer, und die Wände schienen mit einem flimmernden, blauen Licht bedeckt zu sein. In der Mitte des Raumes stand ein Podest, auf dem ein Kristall inmitten eines Risses schwebte.
„Der Kristall“, sagte Solan, seine Stimme fest und nachdenklich. „Er sieht aus wie der Schlüssel, den wir suchen.“
„Vielleicht ist er es“, antwortete Lyra. „Aber wir müssen ihn mit Bedacht nehmen. Der Tempel wird uns nicht einfach so einen Schlüssel überlassen.“
Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, begann der Kristall zu leuchten, und die Wände des Raumes begannen zu pulsieren. Die Visionen, die die Gruppe bis dahin begleitet hatten, kehrten zurück. Zuerst war es nur ein Flimmern, dann entfalteten sich die Bilder vor ihren Augen. Der Tempel von Ysmir in seiner ursprünglichen Form, die Kristallhöhlen von Agramar, der Vergessene Garten von Sahran, der Obsidianwald und der ätherische Strand von Selaria – alles spiegelte sich in den schimmernden Wänden, doch diese Visionen waren keine Erinnerung mehr. Sie schienen lebendig zu sein, sich zu bewegen, als ob sie sich selbst erschufen und veränderten.
„Die Visionen sind noch nicht vorbei“, sagte Myria und starrte auf die sich ständig verändernden Bilder. „Der Kristall… er ist der Knotenpunkt. Wir müssen herausfinden, was er uns zeigt, bevor wir weitergehen können.“
Seraphine trat näher und schloss die Augen. „Ich kann die Zukunft sehen, aber sie ist unscharf. Es gibt mehrere Wege, die sich vor uns öffnen. Aber jeder Weg führt zu einer Entscheidung. Eine Entscheidung, die den Verlauf unserer Reise ändern wird.“
„Dann müssen wir die richtige Wahl treffen“, sagte Lyra entschlossen. „Wir dürfen uns nicht von der Dunkelheit verschlingen lassen. Die Sterne mögen uns den Weg weisen, aber wir müssen den Schritt selbst tun.“
„Was, wenn wir den falschen Weg wählen?“, fragte Sira, die sich in ihrer tierischen Form, einem Panther, vor dem Podest auf den Boden duckte.
„Dann müssen wir uns der Konsequenzen stellen“, antwortete Lyra mit einer Entschlossenheit, die durch ihre Worte deutlich wurde. „Aber wir werden nicht aufgeben. Nicht mehr.“
Der Kristall begann stärker zu leuchten, und die Visionen begannen sich zu verschieben. In der Ferne konnten sie den Tempel von Ysmir erkennen, der sich vor ihnen aus der Dunkelheit erhob, doch er sah nicht mehr so aus wie zuvor. Er war von Rissen durchzogen, und das Sternenlicht, das ihn einst erleuchtet hatte, war nun ein flimmerndes, chaotisches Leuchten. Der Raum, in dem sie standen, war nicht nur ein Spiegel ihrer Erinnerung, sondern auch ein Spiegel der Zukunft, der sich ständig veränderte und sie herausforderte.
„Es ist der Moment“, sagte Lyra. „Wir haben keine Wahl mehr. Der Tempel wird sich verändern, und mit ihm auch wir. Doch nur durch diese Veränderung können wir die Dunkelheit besiegen und den Schlüssel zu unserer Zukunft finden.“
Die Gruppe trat vor, ihre Schritte hallten im Raum, als sie das Podest erreichten. Der Kristall erstrahlte in einem strahlenden Licht, das die Dunkelheit durchbrach und den Raum erleuchtete. Doch es war nicht nur der Kristall, der erstrahlte – es war der Weg, der vor ihnen lag. Und dieser Weg, so schien es, führte nicht nur nach vorn, sondern auch tief in ihr Innerstes, wo ihre wahren Prüfungen auf sie warteten.