Kapitel 42: Der Übergang in die Dunkelheit

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Lesedauer 4 Minuten

Kapitel 42: Der Übergang in die Dunkelheit

Der Riss im Tor war jetzt weit genug geöffnet, um hindurchzutreten. Ein kalter, unergründlicher Wind wehte aus dem Inneren, als ob das Tor selbst die Dunkelheit atmete. Der Boden unter ihren Füßen verwandelte sich, und sie spürten, wie der warme, vertraute Boden des Obsidianwaldes sich zu einem glatten, fast elastischen Untergrund veränderte. Lyra trat als Erste ein, ihre Hand fest um das Fragment geklammert. Kai, Solan und die anderen folgten ihr, die Dunkelheit hinter ihnen verschloss sich langsam.

Der Raum, in den sie traten, war von einer surrealen Stille erfüllt. Es war, als ob alle Geräusche des Waldes, des Windes und sogar ihrer eigenen Schritte in dieser Dimension verschluckt worden wären. Doch der Raum war nicht leer. Überall, wo Lyra hinblickte, erkannte sie vertraute, aber doch veränderte Formen – riesige Kristalle, die in das Dunkel ragten, wie spitze Zähne, die das Licht von innen heraus reflektierten. Es war, als ob der Raum nicht wirklich ein Raum war, sondern ein Abbild ihrer eigenen Erinnerungen, verzerrt und aus den Tiefen ihrer Ängste und Wünsche geformt.

„Wo sind wir?“, fragte Myria, ihre Stimme hallte in der Stille, doch die Worte schienen in der Dunkelheit zu zerfallen.

„Es ist der Garten von Sahran“, antwortete Lyra, während sie sich umsah. „Aber nicht der, den wir kennen. Hier ist er… anders. Der Garten existiert nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit, in den Erinnerungen und in dem, was wir verdrängt haben. Hier ist es, wo das Licht und der Schatten sich treffen.“

Om 25

„Sahran…“ Kai blickte mit gemischten Gefühlen umher. „Dieser Ort hat uns nicht verändert, er hat uns vielmehr gezeigt, was wir hinterlassen haben. Was wir nicht losgelassen haben.“

„Und was erwartet uns hier?“, fragte Seraphine, ihre Augen glänzten in der Dunkelheit. Sie trat auf einen der Kristalle zu, der nun, da sie sich ihm näherte, in ein schimmerndes Licht tauchte.

„Die Antwort auf unsere Reise“, sagte Lyra. „Das Tor war nicht nur ein Weg, es ist ein Spiegel. Was wir in uns selbst finden müssen, werden wir hier sehen.“

Der Raum begann sich zu verändern, die Kristalle zerbrachen langsam, als ob sie von einer unsichtbaren Macht gestreift wurden, und hinter jedem Kristall erschien eine neue Vision. Eine Vision von Lyra, die sich in einem verlassenen Tempel wiederfand. Die Korridore waren von einem seltsamen, blassen Licht durchzogen, und jeder Schritt hallte gespenstisch in der Stille wider. In dieser Vision hielt sie das Fragment in der Hand, aber es war mehr als das. Es war der Schlüssel zu etwas, das tief in ihr verborgen war, etwas, das sie längst vergessen hatte.

„Der Tempel von Ysmir“, murmelte Lyra, als sie das Bild erkannte. „Es ist der Ort, an dem ich den Weg gefunden habe, mich selbst zu erkennen.“

„Der Tempel unter der Erde, der mit den Sternen verbunden ist“, wiederholte Solan, als er das Bild betrachtete, das sich vor ihm entfaltete. „Wir müssen dorthin. Der Garten von Sahran hat uns nur bis hierher geführt.“

„Doch wir haben mehr zu tun“, sagte Myria ruhig, als sie sich langsam dem nächsten Kristall näherte, der sich auflöste und die Erinnerung an einen anderen Ort offenbarte. Ein Ort, den sie alle gut kannten – der ätherische Strand von Selaria. Doch in dieser Vision war der Strand nicht das sanfte Paradies, das sie einst besucht hatten. Der Himmel war dunkler, die Wellen schäumten unruhig und das Wasser wirkte, als ob es in ständiger Bewegung war, als ob es die Realität selbst verschlang.

„Selaria…“, flüsterte Sira, als sie das Bild betrachtete. „Dieser Ort hat uns gezeigt, was wir noch nicht verstehen. Doch dieser Strand… er ist nicht mehr das, was er war.“

„Es ist ein Spiegelbild dessen, was wir in uns tragen“, fügte Seraphine hinzu, ihre Augen von Visionen erleuchtet. „Der Strand von Selaria zeigt uns, wie das, was wir in uns behalten, unsere Welt beeinflusst.“

„Jeder dieser Orte ist ein Teil von uns“, sagte Lyra leise, als sie einen weiteren Kristall berührte, der sich in die Vision einer weiteren dunklen Kammer verwandelte. „Und jede dieser Erinnerungen ist eine Prüfung.“

„Aber die Antwort…“, Solan blickte zu Lyra. „Die Antwort ist im Tempel von Ysmir. Der wahre Weg führt uns dort hin.“

„Dann lasst uns gehen“, sagte Lyra entschlossen, und ein neues Gefühl des Verständnisses durchströmte sie. „Der Weg, den wir beschreiten müssen, ist klar. Wir müssen die Dunkelheit annehmen, um das Licht zu finden.“

Die Gruppe bewegte sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Das Dunkel, das sich um sie legte, schien sich von selbst zu teilen, als sie weitergingen. Doch je näher sie dem Tempel von Ysmir kamen, desto stärker spürten sie den Druck der Dunkelheit um sich. Ihre eigenen Schatten schienen sie zu verfolgen, flüsterten von den Ängsten, die sie nie losgelassen hatten, und von den Geheimnissen, die in den Tiefen ihrer Seelen lauerten.

„Wir müssen uns unseren eigenen Schatten stellen“, sagte Myria, als sie langsam den Eingang des Tempels erblickte. „Das ist der wahre Test.“

Der Eingang des Tempels war imposant, das Tor aus Stein und Obsidian war von alten Runen durchzogen, die in einem unverständlichen Muster leuchteten. Lyra trat vor und legte ihre Hand auf die kalte Oberfläche. Der Torbogen begann zu vibrieren, als würde er auf ihren Kontakt reagieren, als wäre er darauf vorbereitet, denjenigen zu empfangen, der bereit war, die Dunkelheit zu durchdringen.

„Es ist nicht der Weg, der uns verändert“, sagte Lyra, ihre Stimme fest. „Es ist, wer wir auf diesem Weg werden.“

Mit einem letzten, entschlossenen Blick auf ihre Gefährten trat sie in den Tempel, und der Eingang schloss sich hinter ihnen, die Dunkelheit verschlang sie erneut. Doch dieses Mal fühlte es sich anders an. Sie waren nicht mehr fliehende Schatten. Sie waren bereit, sich dem zu stellen, was sie wirklich waren.

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