Kapitel 41: Die Erweckung der Schatten

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Lesedauer 4 Minuten

Kapitel 41: Die Erweckung der Schatten

Das goldene Licht, das den Obsidianwald durchbrach, schien nur für einen Augenblick zu halten, als es die Gruppe in einen strahlenden Glanz hüllte. Doch ebenso schnell, wie es gekommen war, verschwand es wieder, und zurück blieb die undurchdringliche Dunkelheit, die sich wie ein schwerer Mantel um alles legte. Der Wald war nicht einfach schwarz, sondern er war lebendig, die Bäume und der Boden vibrierte mit einer Präsenz, die Lyra spüren konnte, tief in ihrem Innersten. Es war, als ob der Wald sie durchschauen konnte, als ob er in jede Ecke ihrer Seele blickte und jede ihrer Ängste zum Leben erweckte.

„Es fühlt sich an, als ob wir beobachtet werden“, flüsterte Solan, seine Hand schon fest um das Schwert geschlungen. „Als ob der Wald selbst uns testet.“

„Und wir werden ihm nicht entkommen, egal wie schnell wir laufen“, fügte Lyra hinzu, ihre Stimme rau vor Anspannung, als sie den kalten Nebel hinter sich zurückließ. „Der Wald kennt uns. Aber nicht aus den Augen, sondern aus der Dunkelheit, die wir in uns tragen.“

Kai trat näher zu Lyra, seine goldene Peitsche in der Hand, die in den wenigen Lichtstrahlen, die durch die dichten Baumkronen drangen, schwach glänzte. „Es sind nicht nur die Bäume, die uns testen. Es ist das, was in uns selbst verborgen liegt. Wir müssen uns stellen, was wir hinterlassen haben.“

Myria, die ihre Fähigkeit beherrschte, den Nebel zu kontrollieren, warf einen scharfen Blick in die Ferne, wo sich der Wald in eine weitere dunkle Kammer des Vergessens verwandelte. „Jeder Schritt in diesem Wald ist ein Schritt in unsere eigenen Schatten. Der Obsidianwald ist nicht nur ein Ort, er ist ein Spiegel. Und wir sind die, die ihm begegnen müssen.“

Seraphine, die Visionärin der Gruppe, schloss die Augen, als ob sie in einer anderen Welt versank. „Ich sehe etwas“, sagte sie dann, ihre Stimme fast ein Flüstern. „Etwas, das uns erwartet. Ein Tor, das nur geöffnet werden kann, wenn wir uns selbst erkennen. Es ist der Schlüssel zu allem.“

Om 25

„Wo ist dieses Tor?“, fragte Sira, die sich in einen Schatten verwandelt hatte, um in der Dunkelheit besser zu sehen.

„Nicht weit. Aber wir müssen aufhören zu fliehen“, antwortete Seraphine ruhig. „Denn nur durch das Annehmen unserer eigenen Dunkelheit können wir dorthin gelangen.“

Die Gruppe setzte ihren Weg fort, die Bäume wichen, als sie sich der Stelle näherten, die Seraphine beschrieben hatte. Der Boden unter ihnen knarrte und war von Rissen durchzogen, als ob die Erde selbst von einer unheimlichen Macht durchzogen wurde. Schließlich stießen sie auf eine große, verfallene Struktur – ein Tor aus schwarzem Obsidian, das in der Dunkelheit wie ein unheilvolles Monstrum aufragte.

Lyra spürte sofort, dass dies nicht einfach ein Tor war. Es war ein Symbol, ein Stück ihrer Vergangenheit. Das Fragment, das sie immer noch in ihrer Tasche trug, begann wieder zu pulsieren, als wollte es sich selbst offenbaren.

„Das Tor kennt uns“, flüsterte sie, als sie sich ihm näherte. „Es weiß, was wir hinterlassen haben.“

„Und was müssen wir tun, um hindurch zu kommen?“, fragte Kai, seine Stimme fest, aber auch von der Schwere der Situation durchzogen.

„Zuerst müssen wir uns selbst anerkennen. Ohne Furcht. Ohne Lügen“, sagte Myria. Sie trat vor, die Finger durch den Nebel ziehend, als ob sie ein unsichtbares Netz aus Kräften auflöste. „Und dann müssen wir dem Licht in uns begegnen, das wir so lange im Dunkeln gehalten haben.“

„Es ist der Schatten, der uns aufhält, nicht die Dunkelheit selbst“, sagte Lyra, als sie das Fragment in ihrer Hand spürte. Es pulsierte nun stärker, als ob es mit ihren eigenen Ängsten, ihren eigenen Unsicherheiten in Resonanz trat. „Das Fragment ist der Schlüssel. Aber wir müssen bereit sein, uns zu offenbaren.“

Seraphine trat einen Schritt vor, ihre Augen blitzten, als sie einen Blick in die Zukunft warf. „Der Weg ist klar. Doch nur wer sich selbst erkennt, kann den Übergang vollziehen. Wenn wir uns verweigern, werden wir im Schatten verloren.“

Die Gruppe stand eine Weile in schweigender Übereinstimmung. Kai blickte zu Lyra und nickte, als würde er ihre innere Reise spüren. „Dann lasst uns dem Tor begegnen. Ohne Angst, ohne Lüge.“

„Ohne Rücksicht auf den Preis“, fügte Solan hinzu, sein Blick hart, aber auch von einer tiefen, unerschütterlichen Entschlossenheit geprägt.

Langsam trat Lyra näher an das Tor heran. Der Nebel verdichtete sich um sie herum, als wollte er sie daran hindern, vorwärts zu gehen. Doch in diesem Moment wusste sie, dass sie keinen Schritt mehr zurücktreten konnte. Die Dunkelheit hatte sie geformt, aber sie war es, die sie jetzt beherrschte.

„Ich habe immer geglaubt, ich müsse kämpfen, um voranzukommen“, sagte sie leise, als sie das Fragment in die Hand nahm. „Aber es war nie der Kampf, der mich blockierte. Es war der Glaube, dass ich etwas verlieren könnte, was ich nie hatte.“

Das Tor begann zu leuchten, als Lyra das Fragment gegen die kalte Oberfläche hielt. Der Obsidian funkelte in einem verblüffend hellen Licht, und für einen Moment schien der Wald um sie herum zu atmen, als ob er endlich von einer Last befreit würde.

„Das ist der wahre Test“, sagte Myria, und ihre Stimme war nun nicht mehr von Zweifel oder Angst durchzogen, sondern von einer erhabenen Klarheit. „Nicht das, was wir tun oder was wir kämpfen, sondern wer wir sind, wenn wir uns selbst erkennen.“

Ein Riss zog sich durch das Tor, und langsam öffnete es sich mit einem dröhnenden Laut, der in den tiefen Abgrund des Waldes widerhallte. Dahinter lag eine neue Dimension, die der Gruppe sowohl fremd als auch vertraut erschien.

„Was erwartet uns dort?“, fragte Sira, als sie in die dunkle Leere des Torraums starrte.

„Die Antwort auf die Frage, die wir uns immer gestellt haben“, sagte Lyra, und ihre Augen leuchteten jetzt mit einer tiefen, unerschütterlichen Entschlossenheit. „Der Garten von Sahran hat uns nicht verändert. Er hat uns nur gezeigt, wer wir wirklich sind.“

Und mit diesen Worten trat die Gruppe in das Tor, bereit, den nächsten Schritt in ihrer Reise zu wagen. Denn das, was jenseits des Dunkels lag, war noch nicht bekannt – aber sie wussten, dass sie es zusammen betreten würden.

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