Kapitel 40: Der Test des Lichts und der Schatten

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Lesedauer 4 Minuten

Kapitel 40: Der Test des Lichts und der Schatten

Die Worte des silberhaarigen Wächters hallten noch immer in ihren Ohren, als die Gruppe tiefer in die Kluft trat. Lyra fühlte das Fragment in ihrer Tasche stärker pochen, als hätte es ihren eigenen Herzschlag synchronisiert. Der Boden unter ihren Füßen bebte weiter, und der Nebel verdichtete sich, als wollten sich die Erinnerungen selbst noch tiefer in ihre Seelen graben.

„Es ist nicht nur der Garten, der sich verändert hat“, flüsterte Solan, seine Stimme beinahe verloren in der überwältigenden Dunkelheit. „Es sind wir, die wir ihn verändern. Unsere Reise hat uns nicht nur an diesen Ort geführt, sondern zu den Tiefen dessen, was wir in uns selbst vergraben haben.“

„Vielleicht ist das der wahre Test“, sagte Lyra, ihre Augen auf den Nebel gerichtet. „Nicht, was wir finden, sondern was wir zu sehen bereit sind.“

Die Luft war schwer, die Dunkelheit drückte auf sie, und doch schien ein Teil des Gartens, den sie betreten hatten, vertraut – als hätten sie ihn schon einmal gesehen, jedoch in einer anderen Form. Der vergessene Garten von Sahran war nicht mehr der friedliche, beinahe magische Ort, an den sie sich erinnerten. Stattdessen war er von verzerrten, flimmernden Formen und düsteren Schatten geprägt. Die Bäume, die einst in einer zarten Harmonie nebeneinander standen, wirkten nun wie gequälte Riesen, deren Äste sich unaufhörlich in den Himmel schraubten. Das Licht, das durch die dichten Nebelstränge drang, hatte eine seltsame, unnatürliche Farbe, als wäre die Sonne nicht mehr der gleiche Himmelskörper wie zuvor.

„Er hat uns verändert“, sagte Myria Dunkelmond, die mit ihren Augen den Nebel durchbrach und versuchte, die wahrhaftige Form der Welt um sie herum zu erkennen. „Dieser Garten ist ein Spiegel. Und nicht nur von uns, sondern von allem, was wir zu verdrängen versuchten.“

„Jeder Schritt, den wir machen, führt uns tiefer in die Wahrheit – und in die Dunkelheit, die wir in uns selbst tragen“, fügte Kai hinzu. Seine goldene Peitsche glomm schwach in der dämmerigen Luft, als er sie zu einem leichten Schwung in den Nebel führte, als wolle er den Raum um sie herum reinigen.

„Wir müssen uns stellen, was wir verloren haben“, sagte Seraphine, und obwohl ihre Stimme ruhig war, spürte man die brennende Entschlossenheit in ihren Worten. „Ich habe die Visionen gesehen. Dies ist der Ort der Verborgenen, und hier liegt der Schlüssel zu unserem Schicksal.“

Om 25

Die Gruppe bewegte sich weiter, das Fragment, das Lyra trug, zog ihre Schritte wie ein unsichtbares Band. Doch als sie den nächsten Abschnitt des Gartens erreichten, spürten sie die Veränderung – der Boden war nicht mehr weich und feucht, sondern hart und rissig, als hätte der Garten selbst das Gleichgewicht verloren. Vor ihnen erhob sich ein neuer, überwältigender Anblick.

Der Obsidianwald.

Lyra erinnerte sich an den Obsidianwald – an das erste Mal, als sie durch diesen düsteren Ort gegangen waren. Doch damals war er ein fremder, geheimnisvoller Ort gewesen. Jetzt jedoch schien der Wald nicht nur von der Dunkelheit durchzogen, sondern selbst mit einer Präsenz zu leben, die tief in den Seelen der Abenteurer widerhallte. Die schwarzen Bäume, die in der Stille standen, wirkten nun wie uralte Wachen, die darauf warteten, dass der nächste Schritt getan wurde. Die Zweige knarzten, als wäre der Wald nicht nur ein Ort, sondern ein lebendiger Albtraum, der sie herausforderte.

„Der Obsidianwald hat sich verändert“, sagte Sira, die Verwandlungskünstlerin, mit scharfen Augen, die zwischen den Schatten der Bäume hin und her flogen. „Er sieht aus wie damals, aber er fühlt sich anders an. Er hat uns erwartet.“

„Er will uns ergreifen“, sagte Isolde, die Heilende, ihre Hand auf die Brust gelegt, als wolle sie sich selbst vor den Wellen des Schmerzes schützen, die der Wald auszustrahlen schien. „Er will uns mit den Dunkelheiten von damals fangen, uns in die Schatten zurückziehen.“

„Dann müssen wir die Dunkelheit annehmen“, sagte Kai, seine Worte fest wie Stahl. „Wir wissen, was uns erwartet. Der Obsidianwald kann uns nicht aufhalten. Nicht mehr.“

Langsam gingen sie weiter, den dichten Nebel und die schwarzen Äste um sich verflimmern lassend, als sie tiefer in den Wald eintreten. Doch je weiter sie gingen, desto intensiver wurde das Gefühl, dass der Wald sie nicht nur prüfte, sondern dass er etwas von ihnen verlangte – etwas, das sie längst vergessen hatten.

„Die Dunkelheit hier…“, sagte Myria, „sie ist nicht nur die der Welt um uns. Sie ist die Dunkelheit in uns selbst. Etwas, das wir nie wirklich losgelassen haben.“

„Die Schatten sind immer mit uns“, murmelte Seraphine. „Und sie kommen nicht, um uns zu vernichten. Sie kommen, um uns zu befreien.“

Lyra schritt weiter, und als sie sich vor einem alten, verwitterten Baum mit leuchtenden, schwarzen Rindenborken stellte, hörte sie plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf.

„Erkenne die Wahrheit, Lyra. Du hast dich immer gefragt, was du opfern musst. Sieh, was du in der Dunkelheit hinterlassen hast. Nur dann wirst du das Fragment wirklich verstehen.“

Die Worte hingen in der Luft, und Lyra fühlte sich, als würde sich ein Vorhang von ihrer Seele lüften. Ein Stück Erinnerung, das sie nie wirklich anerkannt hatte, kam an die Oberfläche. Ein Blick auf ihre Kindheit, auf die Leere, die sie damals in sich getragen hatte. Ein Schmerz, den sie nie hatte heilen lassen.

„Es ist… das Gefühl, niemals genug zu sein“, flüsterte sie, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Ich dachte immer, ich müsste mehr sein, mehr leisten, mehr fühlen. Aber es war nie die Dunkelheit, die ich fürchtete. Es war die Leere in mir.“

Die Gruppe stand schweigend da, und der Nebel schien sich zu verziehen, als würde die Welt auf Lyra’s Worte reagieren. Die Bäume um sie herum begannen, sich zu bewegen – nicht mit einem Wind, sondern als würden sie selbst leben und atmen. Der Obsidianwald hatte sich nicht nur verändert. Er hatte Lyra verändert.

„Du hast dich verloren“, sagte die Stimme der silberhaarigen Wächterin, die plötzlich wieder in der Nähe war, „aber du hast auch den Weg zurück gefunden. Jetzt, da du die Dunkelheit akzeptierst, wirst du die wahre Essenz des Fragmentes verstehen.“

Ein neues Licht, weich und doch durchdringend, brach durch den Wald und tauchte die Gruppe in einen goldenen Schein. Doch anstatt vor ihnen zu liegen, spiegelte es sich im Boden, als wolle es die Welt unter ihren Füßen erneut verändern. Die Dunkelheit des Obsidianwaldes verschwand, und die ersten Sonnenstrahlen schimmerten in der Ferne.

„Das ist nicht nur der Garten von Sahran“, sagte Lyra, und ein erlösendes Lächeln stieg auf ihre Lippen. „Es ist der Garten in uns.“

Und sie wussten, dass der wahre Weg erst jetzt begann.

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