Kapitel 38: Das Echo des Vergessens

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Kapitel 38: Das Echo des Vergessens

Der Boden unter ihren Füßen war uneben, das Gras schien zu atmen, als ob es aus einem eigenen, unsichtbaren Leben schöpfte. Der Nebel, der den Garten von Sahran nun umhüllte, war dichter geworden und hatte eine eigenartige Schwere angenommen. Jeder Schritt von Lyra, Kai, Solan und den anderen war von einem widerstandslosen Echo begleitet, als ob die Erde selbst ihre Bewegungen zurückhielt, sie nicht weiterziehen lassen wollte.

„Es ist… als ob dieser Ort uns erwartet“, flüsterte Lyra, ihre Worte fast vom Nebel verschluckt. Sie sah sich um, der Garten wirkte noch immer wie der, den sie einst betreten hatten, aber alles war verändert. Die einst blühenden Bäume waren nun leblos, ihre Rinde schwarz, und aus den Rissen, die sich in den Boden gruben, kroch Dunkelheit, die mehr wie ein Fluss war, der sich seinen Weg durch die Zeit bahnte.

„Wir waren schon einmal hier“, sagte Solan, seine Stimme klang wie das Brummen eines fernen Donners, „doch es fühlt sich an, als wären wir in eine andere Zeit zurückgekehrt. Der Garten… er ist nicht mehr der gleiche.“

„Er hat sich nach uns gerichtet“, ergänzte Lyra, und ihre Augen verengten sich, als sie das Fragment in ihrer Tasche spürte. „Wir haben uns verändert, und der Garten reflektiert das, was in uns geschieht.“

Kai trat vor, seine goldene Peitsche noch immer fest in der Hand. „Und doch müssen wir weitergehen. Solange wir uns nicht verlieren, wird uns dieser Garten nicht aufhalten.“

„Der Garten von Sahran“, flüsterte Myria, die langsam neben ihnen trat, „ist der Spiegel unserer eigenen Erinnerungen und Vergessenheit. Es gibt keinen Weg, der uns vor dem entgeht, was wir tief in uns begraben haben. Hier wird alles sichtbar.“

„Sira ist schon wieder unterwegs, um uns zu warnen, wenn sich etwas bewegt“, sagte Solan, als er Sira’s Adlerform hoch oben am Himmel erblickte. „Aber was auch immer uns hier erwartet, wir sollten vorbereitet sein.“

Die Gruppe trat weiter vor, und der Nebel teilte sich vor ihnen, als ob er einen geheimen Pfad freigab. Der Boden, der vor wenigen Momenten noch fest und hart unter ihren Füßen gewesen war, begann sich nun zu verändern. Plötzlich war er weich und feucht, und aus dem Boden empor stiegen immer wieder flimmernde Gestalten, wie aus einem Albtraum. Lyra konnte nicht genau erkennen, ob es die Geister vergangener Zeiten waren oder etwas anderes, doch der kalte Schauer, der ihren Rücken hinunterlief, sprach Bände.

Om 25

„Das sind die verlorenen Erinnerungen“, sagte Seraphine Veyra, die sich zu ihnen gesellte. Ihre Augen, die die Zukunft lesen konnten, funkelten vor einer unheimlichen Klarheit. „Sie kommen aus dem Nichts, um uns zu prüfen. Sie sind das Echo dessen, was in der Dunkelheit bleibt.“

„Wie können wir weitergehen, wenn wir von uns selbst umgeben sind?“ fragte Myria mit einem tiefen Seufzer. Der Nebel schien sich um sie zu winden, als wollten die Schatten sie anhalten.

„Indem wir uns nicht von den Erinnerungen erdrücken lassen“, antwortete Kai mit einer unerschütterlichen Entschlossenheit. „Das ist der Weg. Nicht der der Vergangenheit, sondern der der Zukunft. Wir können uns nicht von dem definieren lassen, was wir vergessen haben.“

Der Boden unter ihren Füßen gab nach, als ein gewaltiger Riss sich durch den Garten zog. Dunkelheit breitete sich aus, und die Luft vibrierte vor Energie. Es war der Moment, auf den sie gewartet hatten, der Moment, in dem sich der wahre Test offenbarte. Doch was sie vor sich sahen, ließ ihre Herzen schwer werden.

Vor ihnen öffnete sich eine gewaltige Kluft, die sich wie ein Abgrund in die Unendlichkeit zog. Der Nebel wirbelte auf, und aus der Dunkelheit stiegen weiße, schimmernde Silhouetten auf – Wesen, die wie Erinnerungen selbst aussahen, verschwommen und geisterhaft.

„Das sind die Wächter des Vergessens“, sagte Myria mit flimmernder Stimme. „Die, die über das wachen, was wir nicht mehr wissen dürfen.“

„Dann müssen wir sie konfrontieren“, sagte Lyra mit fester Stimme. „Es gibt keinen anderen Weg.“

„Der Garten wird uns alles nehmen, was wir wissen, wenn wir uns zu sehr darauf einlassen“, warnte Solan, während die Gruppe sich weiter voranbewegte. „Aber wenn wir das Fragment finden und den Schlüssel zur Wahrheit erlangen, könnte es uns helfen, die Dunkelheit zu besiegen.“

„Erst müssen wir durch die Wächter kommen“, sagte Sira, die sich wieder in ihre menschliche Form zurückverwandelte, nachdem sie den Himmel durchflogen hatte. „Und sie sind nicht die, die sie zu sein scheinen.“

Kaum hatte sie das gesagt, formte sich vor ihnen eine der schimmernden Silhouetten zu einer Gestalt. Ein Mann, der weder vollständig real noch vollständig geisterhaft war. „Ihr habt den Weg zum Tor des Vergessens betreten“, sagte die Gestalt, ihre Stimme wie das Rauschen eines fernen Meeres. „Doch wisst, dass der Preis für das, was ihr sucht, nicht der ist, den ihr erwartet.“

„Wir sind bereit, den Preis zu zahlen“, sagte Lyra entschlossen. „Aber wir müssen wissen, was uns zurückhält. Wir müssen wissen, wer wir sind.“

„Ihr sucht nicht nur nach der Wahrheit“, sagte die Gestalt mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Ihr sucht nach dem, was euch verloren ging. Doch was, wenn das, was ihr wirklich sucht, das ist, was euch im Innersten verbirgt?“

Die Worte hallten in Lyra’s Kopf wider, als sie sich dem Wächter der Vergessenheit näherte. Etwas in ihr begann zu brennen, eine Erinnerung, die sich schwer in ihren Gedanken formte – eine Erinnerung, die sie nicht greifen konnte. Und doch war sie sicher, dass sie diese Antwort kennen musste, um den Garten zu verlassen und den Schlüssel zum Fragment zu finden.

„Zeig uns, was wir verloren haben“, forderte Lyra. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Der Wächter nickte, und die Dunkelheit um sie begann sich zu verändern. Der Nebel verzog sich, und vor ihnen öffnete sich eine weitere Vision – ein Bild von der Kristallhöhle von Agramar, der Ort, den sie schon einmal betreten hatten, aber der nun anders war. Die Kristalle, die einst in allen Farben des Regenbogens funkelten, waren nun dunkel und zerbrochen, ihre Oberflächen von einem feinen, schwarzen Staub bedeckt.

„Der Vergessene Garten ist nicht der einzige Ort, der sich verändert hat“, murmelte Solan, als er die Szenerie betrachtete. „Jeder Ort, den wir betreten haben, trägt nun den Abdruck dessen, was wir vergessen haben. Sogar Agramar ist nicht mehr der Ort, den wir einst kannten.“

„Das Fragment… wir müssen es finden“, sagte Lyra, ihre Augen fest auf das Bild gerichtet. „Und mit ihm die Antwort auf all das, was uns hierher geführt hat.“

Die Gruppe trat weiter vor. Sie wussten, dass der wahre Kampf erst begonnen hatte – und dass sie alles riskieren mussten, um zu finden, was sie verloren hatten. Doch die Dunkelheit, die sie umgab, schien nicht nur eine Gefahr, sondern auch ein Teil von ihnen selbst zu sein – eine Erinnerung, die sie nie wieder loslassen würden.

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