Kapitel 37: Das Tor des Vergessens

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Lesedauer 4 Minuten

Kapitel 37: Das Tor des Vergessens

Die Luft war schwer, fast greifbar in ihrer Dichte, als der Hüter der vergessenen Erinnerung, eine Gestalt aus reiner Dunkelheit, ihnen gegenübertrat. Lyra spürte das Gewicht der Stille, die sich in den Falten des Nebels sammelte. Ihre Gedanken rasch, ihre Hand zitterte nur leicht um das Fragment in ihrer Tasche. Die Maskenform des Hüters schimmerte im kalten Dämmerlicht wie ein Fragment der Vergessenheit, das von den Wänden des Baumes hervorzutreten schien, als hätte er immer hier gestanden – nie wirklich verschwunden.

„Ihr wollt die Wahrheit finden“, wiederholte der Hüter, und die Worte hallten wie das Rauschen eines weit entfernten, nie endenden Windes. „Aber seid gewarnt, denn der Preis ist euer Gedächtnis. Was ihr sucht, wird euch zeigen, was ihr vergessen habt, und was ihr vergesst, wird euch ein für alle Mal verlieren.“

„Was meinst du mit ‚verliert‘?“ Kai trat einen Schritt vor, die goldene Peitsche fest in der Hand, als wollte er die Dunkelheit selbst zerschlagen.

„Es ist ein Prozess der Entfremdung“, erklärte der Hüter mit einer Stimme, die sich anfühlte, als käme sie aus der Tiefe eines unterirdischen Abgrunds. „Der Garten nähert sich euch, wie der Spiegel der Seele. Je mehr ihr in ihn eintaucht, desto mehr wird euch von euch selbst genommen. Aber seid vorsichtig. Denn einige Dinge, die euch entzogen werden, kehren nie zurück.“

Die Gruppe war sich der Gefahr bewusst. Die Worte des Hüters hatten Gewicht, aber sie wussten auch, dass ihr Weg nur durch das Überwinden dieser Dunkelheit führen konnte. Lyra schaute zu ihren Gefährten. Kai, mit seiner Entschlossenheit, die sie in diesem Moment so dringend brauchte. Solan, dessen Weisheit sie oft beruhigte, und Sira, deren mutige Transformationen sie stets überrascht hatten. Es war das gemeinsame Band, das sie bis hierher getragen hatte – und das Band, das sie auch jetzt nicht loslassen durfte.

„Was genau erwartet uns hier?“ fragte Lyra. Ihre Stimme war fest, doch innerlich wusste sie, dass der Weg weiterging, ungeachtet dessen, was sie verlieren oder finden würden.

„Der Garten bietet euch keine einfachen Antworten“, sagte der Hüter mit einer Bewegung, die wie ein Flügelschlag in der Dunkelheit klang. „Er zeigt euch, was ihr verloren habt, was euch von der Wahrheit trennt. Aber der Preis, den ihr bezahlen werdet, ist nicht für jeden tragbar.“

„Wir sind bereit“, sagte Myria, und ihre Worte hingen in der Luft, zart und doch voller Entschlossenheit. „Die Dunkelheit in uns muss erleuchtet werden, wenn wir jemals das Fragment finden wollen. Wenn wir uns weiter wagen, dann nur gemeinsam.“

Om 25

Die Stille, die folgte, war fast greifbar. Dann trat der Hüter zurück, und aus der Dunkelheit formte sich ein Tor – ein schimmernder Riss, der sich wie ein Atemzug in der Wand des Baumes öffnete. Dahinter war nur noch eine leere Weite, aus der das Nichts zu fließen schien, als wollte es sie verschlingen.

„Geht“, sagte der Hüter. „Betretet das Tor, und erkennt die Wahrheit. Doch vergesst nicht: In dieser Dunkelheit ist nichts, was euch bleibt, unberührt.“

Ohne weitere Worte zog Lyra einen tiefen Atemzug. Ihr Blick fiel auf das Fragment in ihrer Tasche, und sie spürte, wie es gegen ihre Hand zu schlagen begann. Es war, als würde es lebendig werden, als ob die Dunkelheit von ihr Besitz ergriff. „Wir gehen“, sagte sie schließlich und trat voran.

Die anderen folgten, Schritt für Schritt. Und als sie das Tor überschritten, verschmolz der Nebel um sie, und die vertrauten Umrisse des Baumes lösten sich in nichts auf. Sie waren nicht mehr an ihrem gewohnten Ort, sondern standen in einer weiten, endlosen Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte. Überall war der Nebel dichter, und doch war es ein anderer Nebel – ein Nebel, der lebte, atmete und ihnen die Sicht raubte.

„Es fühlt sich an, als ob die Zeit hier anders fließt“, sagte Solan, seine Stimme unsicher. „So, als ob wir hier keine Erinnerungen mehr haben dürften.“

„Das ist der Vergessene Garten“, flüsterte Myria. „Ein Ort jenseits der Zeit. Aber keine Sorge. Wir sind zusammen. Nur zusammen können wir die Dunkelheit besiegen und uns erinnern, wer wir wirklich sind.“

„Es wird ein langer Weg“, sagte Sira. „Und ich spüre, dass etwas uns verfolgt, sich in den Schatten bewegt. Aber ich kann nicht mehr sagen, was es ist.“ Sie verwandelte sich wieder in einen Adler und flog auf, um die Umgebung zu überprüfen.

Lyra blickte sich um. „Und der Hüter… Wer war er wirklich?“

„Der Hüter ist der erste Test“, sagte Myria, „aber der wahre Test wartet weiter im Inneren. Dieser Ort ist wie ein Spiegel, der uns zeigt, was wir aus den Augen verloren haben.“

Plötzlich flackerte das Licht der Umgebung, und der Nebel öffnete sich für einen Moment. Vor ihnen, inmitten des Graus, erschien ein vertrauter Ort. Der Garten von Sahran. Doch etwas war anders. Die einst blühenden Bäume, die sie vor einiger Zeit betreten hatten, waren jetzt dürr, ihre Blätter schwarz und leblos. Der Boden war von Rissen durchzogen, aus denen Schatten krochen, die den Boden kühl und feucht machten.

„Wir… waren hier“, flüsterte Solan. „Aber es ist nicht mehr derselbe Ort. Die Zeit hat ihn verändert.“

„Nein“, sagte Lyra und zog ihre Hand langsam zum Fragment in ihrer Tasche. „Wir haben uns verändert. Der Ort hat sich nur nach uns gerichtet.“

„Das Fragment“, sagte Kai, „es wird uns zeigen, was wir verloren haben, was uns hierhergeführt hat.“

„Oder was wir uns selbst genommen haben“, fügte Myria hinzu. „Es gibt keine Antwort ohne Opfer.“

„Und doch müssen wir weitergehen“, sagte Lyra, ihre Stimme voller Entschlossenheit. „Lass uns das Fragment finden und das Rätsel lösen, das uns hierherführt.“

„Der Weg wird nie einfach sein“, sagte Solan. „Aber wir sind nicht allein. Und wir werden ihn gemeinsam gehen.“

Der Garten von Sahran war nur der Anfang. Der wahre Test stand noch bevor, und jeder Schritt, den sie machten, führte sie näher an das, was sie vergessen hatten – und das, was sie wiederfinden mussten, um den Weg zu erkennen, der vor ihnen lag.

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