Kapitel 36: Die Dunkelheit des Vergessens
Der Nebel um sie dichte sich weiter, als Lyra und ihre Gefährten den letzten, beschwerlichen Schritt auf den höchsten Ast des Baumes machten. Der Schatten, der sich über den Garten gelegt hatte, schien ihnen immer näher zu rücken, als ob der Baum selbst ihnen nicht nur die Aussicht, sondern auch den letzten Rest von Hoffnung rauben wollte. Kai hielt die goldene Peitsche fest in der Hand, seine Augen starrten in die leere Dunkelheit, die sich vor ihnen ausbreitete.
„Das Fragment…“, murmelte Solan, während er sich an einem knorrigen Ast festhielt. „Es ist… anders als wir es uns vorgestellt haben. Ich hatte immer geglaubt, es würde uns eine Antwort bringen, ein Ziel. Aber jetzt…“
Lyra nickte, ihre Hand fest um das Fragment in ihrer Tasche. Sie konnte die Schwere des Gegenstandes spüren, die in ihren Händen drückte, als ob es sich selbst gegen sie sträubte. Doch es war nicht das Fragment selbst, das sie ängstigte, sondern die schleichende Dunkelheit, die es umgab.
„Es ist kein Relikt“, wiederholte Myria, „es ist ein Erinnerungsstück. Ein Fragment der Erinnerung an etwas, das wir längst vergessen haben. Etwas, das uns auf diesem Pfad nicht nur leiten sollte, sondern auch in den Abgrund ziehen kann, wenn wir uns nicht davor hüten.“
Sira, die auf einem der umstehenden Äste saß, verwandelte sich schnell in einen majestätischen Adler und stieß in den Nebel, als wolle sie etwas entlarven, das tief in der Dunkelheit verborgen war. Ihr Blick durchbrach die Dämmerung für einen Moment, als sie wieder hinunterflog und sich in ihrer menschlichen Gestalt verwandelte. Ihre Augen waren weit, als sie sprach.
„Der Garten… er lebt. Ich habe es gesehen – oder besser gesagt, ich habe gespürt, wie er uns beobachtet. Wir sind hier nicht willkommen. Der Baum, der uns bis hierher geführt hat, ist nur ein Teil des Labyrinths. Und…“ Sie zögerte und sah Lyra an. „…und es gibt einen Preis, den wir noch nicht verstehen.“
Die Worte hallten in Lyra nach, als sie sich dem Zentrum des Baumes näherten. „Was meinst du mit einem Preis?“, fragte sie, obwohl sie es schon wusste. Der Garten hatte immer etwas von ihnen verlangt. Es war nie ein einfacher Weg gewesen.
Myria schloss die Augen und sprach leise. „Es gibt Orte, an denen die Zeit nicht vergeht. An denen Erinnerungen verwehen, und in diesem Moment haben wir uns selbst verloren. Der Garten hat nicht nur seine Geheimnisse von uns verborgen gehalten, sondern auch unsere eigenen.“
„Die Kristallhöhlen von Agramar“, sagte Solan nachdenklich. „Ich erinnere mich, dass dort etwas von den Geistern der Verstorbenen erzählt wurde. Etwas, das uns verbrennen könnte, wenn wir es nicht mit reinem Herzen betreten. Ist das das, was du meinst, Myria?“
„Nicht nur“, antwortete Myria, als sie sich umdrehte, ihre silbernen Augen in die Dunkelheit gerichtet. „Der Vergessene Garten ist der Ursprung der Dunkelheit. Er wurde von der Macht der Sterne genährt, aber mit der Zeit… ist er zu einem Gefängnis geworden. Ein Gefängnis für all jene, die die Wahrheit suchten.“
„Und wir sind nun Gefangene?“, fragte Kai, seine Stimme klang wie ein tiefes Grollen, das in der Stille der Nacht widerhallte.
„Nicht Gefangene“, erwiderte Myria. „Wirklich nicht. Aber der Garten wird uns alles entziehen, was uns jemals zu dem gemacht hat, was wir sind, wenn wir uns ihm nicht stellen. Wir müssen die Dunkelheit in uns selbst erkennen, bevor wir weiterziehen können.“
Sira hob den Kopf und blickte zu den verschlungenen Ästen des Baumes hinauf. „Und was genau sollen wir tun, wenn wir diese Dunkelheit erkennen?“
„Befreien“, antwortete Myria, „befreien wir uns von dem, was uns daran hindert, vorwärts zu gehen. Nur dann werden wir das Fragment finden.“
„Es ist eine Falle“, sagte Solan leise, während er seine Hand an den Stamm des Baumes legte. „Und wir sind mitten in ihr gefangen.“
Die Worte schienen die Luft zu durchdringen und der Nebel zog sich enger um sie, als wolle er sie erdrücken. Die Dunkelheit selbst schien zu antworten, als sich ein tiefes Grollen durch die Äste des Baumes zog.
„Der Preis wird hoch sein“, sagte Myria ruhig. „Aber nur wer bereit ist, sich der Wahrheit zu stellen, wird sie finden. Der Garten wird uns nur das geben, was wir zu empfangen bereit sind.“
„Das bedeutet… dass wir nicht nur das Fragment brauchen“, sagte Lyra, als ihr klar wurde, was sie tun mussten. „Wir müssen uns selbst zurückholen, bevor wir es holen können. Es wird uns nicht nur zeigen, was wir suchen, sondern auch, was wir verloren haben.“
„Dann lasst uns nicht zögern“, sagte Kai, und seine Stimme war entschlossen. „Denn der Weg nach oben mag schwer sein, aber wir werden ihn gemeinsam gehen.“
Gerade als sie sich darauf vorbereiteten, weiterzumarschieren, warf Sira einen letzten Blick in den Nebel und verwandelte sich wieder in einen Adler. Sie flog in die Dunkelheit hinauf, ihre Flügel schallten wie ein Tinnitus in Lyra’s Ohren. Ihre scharfen Augen durchbrachen den Nebel und fingen eine Bewegung auf, die fast nicht zu erkennen war.
„Wir sind nicht allein“, rief sie, als sie wieder herabflog und sich in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelte. „Es gibt… eine andere Präsenz hier. Etwas, das uns folgt.“
In dem Moment, als sie sprach, brach die Dunkelheit mit einem gleißenden Licht auf, das ihre Augen blendete. Der Baum begann zu vibrieren, und die Äste nahmen die Form von schemenhaften Gestalten an. Lyra spürte, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog – eine Erinnerung, die sie fast zu verlieren geglaubt hatte. Doch gerade als der Baum sich weiter verdichtete, wurden die Formen klarer, und ein einzelner Schatten trat aus der Dunkelheit hervor.
Es war ein vertrautes Gesicht, doch Lyra konnte es nicht sofort zuordnen. Das Wesen, das vor ihnen stand, trug eine Maske aus lebendigem Obsidian, das in den Strahlen des Nebels schimmerte. Ein Flüstern drang aus der Maske, das so kalt war, dass es tief in Lyra’s Knochen ging.
„Ihr wollt die Wahrheit finden“, sagte der Schatten in einer Stimme, die sich wie ein eisiger Wind anfühlte. „Aber seid gewarnt: Die Wahrheit ist ein Gefängnis, das nur wenige betreten und noch weniger verlassen können.“
Lyra trat einen Schritt nach vorne, ihre Augen fest auf den Schatten gerichtet. „Wer bist du?“
„Ich bin der Hüter der vergessenen Erinnerung“, antwortete die Stimme aus dem Nebel. „Und ihr seid diejenigen, die sich dem letzten Test stellen müssen, bevor ihr weitergeht.“
Und so standen sie da, vor dem letzten Hüter der Dunkelheit, in einem Garten, der mehr war als nur ein Ort. Es war ein Labyrinth der Seelen – der Ort, an dem ihre größte Prüfung und ihr wahres Erbe auf sie warteten.