Kapitel 35: Das Erbe der Schatten

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Kapitel 35: Das Erbe der Schatten

Der Baum, an dessen Stamm Lyra und ihre Gefährten gerade hinaufstiegen, war nun vollständig von Nebeln umhüllt. Die Atmosphäre hatte sich noch weiter verdichtet, als ob selbst die Luft den Atem anhielt. Die leuchtenden Blätter, die zuvor in den schillerndsten Farben geglänzt hatten, waren nun in ein mattes, fast gespenstisches Licht gehüllt. Es war, als ob der Garten selbst versuchte, das Fragment vor ihren Blicken zu verbergen.

„Wir sind nicht allein“, flüsterte Kai, seine goldene Peitsche in der Hand, bereit, sich jeder Bedrohung zu stellen. Der leise Wind in den Ästen des Baumes trug einen vertrauten Duft, den Lyra unwillkürlich als einen ihrer ersten Erlebnisse hier in diesem Garten wiedererkannte. Doch jetzt war dieser Duft verdorben, als ob er von den düsteren Kräften beeinflusst wurde, die immer noch im Hintergrund lauerten.

Myria, die sie mit einer festen, jedoch besorgten Miene beobachtete, blieb stehen und schloss die Augen für einen Moment. Ihre silbernen Augen, die den Nebel wie ein offenes Buch lasen, öffneten sich wieder, und ihre Stimme klang warnend, doch auch nachdenklich: „Der Garten verändert sich, während wir uns ihm nähern. Was wir suchen, ist ein Relikt, aber dieser Ort wird nicht zulassen, dass es leicht zu finden ist. Die Dunkelheit… sie hat hier eine neue Gestalt angenommen.“

„Eine neue Gestalt?“, fragte Sira, die sich in eine Eule verwandelt hatte und nun von einem Ast zum anderen flog, um einen besseren Überblick zu bekommen. Ihre scharfen Augen suchten nach etwas, das sie in diesem gewundenen Labyrinth von Bäumen und Nebel aufspüren konnte. „Was meinst du, Myria?“

„Was wir heute erleben, ist mehr als eine einfache Prüfung“, antwortete die Nebelmeisterin, „es ist ein Test des Willens. Ein Test für den Geist und die Seele.“ Ihre Stimme klang gedämpft, als sie in die nebelverhangene Tiefe des Gartens starrte. „Erinnert euch daran, was Myria uns zuvor gesagt hat: Der Garten ist lebendig. Er kann uns nichts schenken, ohne dass er uns fordert.“

Om 25

Lyra trat einen Schritt vor. Die düsteren Worte von Myria rieben sich in ihren Gedanken, aber ihre Entschlossenheit war stärker. Sie wusste, dass sie an diesem Punkt keine Zweifel mehr zulassen konnte. „Lasst uns vorwärts gehen“, sagte sie ruhig und blickte zu den anderen, „der Weg führt weiter nach oben.“

Der Baum, auf den sie sich zubewegten, war gewaltig. Die gewundenen Äste erinnerten an eine schützende Hand, die sich über sie legte. Doch als sie weiter nach oben stiegen, spürten sie eine zunehmende Kälte, die sich aus den Tiefen des Baumes ausbreitete und ihre Haut durchdrang. Es war ein Gefühl, als ob die Zeit selbst an ihnen zerrte und sie immer tiefer in eine andere Dimension eintauchten.

„Hier ist etwas nicht in Ordnung“, bemerkte Solan, als er eine Wendung im Stamm erreichte und den Blick auf die umliegenden Bäume richtete. „Es fühlt sich an, als wären wir… hier schon einmal gewesen.“

„Es stimmt“, bestätigte Lyra, während sie nach oben schaute und die Dunkelheit um sie herum spürte. „Der Baum… er sieht aus wie der, den wir vor Jahren in der Nähe des Kristallhügels durchquerten. Aber dieser hier ist anders. Es ist, als würde er uns an einem Ort festhalten, der sich vor uns verbirgt.“

„Dieser Ort ist nicht nur ein Teil des Gartens von Sahran“, fügte Kai hinzu, „sondern ein weiterer Spiegel seiner Geheimnisse. Jeder Schritt, den wir hier machen, führt uns weiter in das Labyrinth, das der Garten erschaffen hat.“

Plötzlich ertönte ein klares, durchdringendes Geräusch, das von den höchsten Ästen des Baumes herab kam – ein leises Knistern, das sich wie ein Flüstern in ihren Köpfen ausbreitete. Die Worte, die sie vernahmen, waren schwer und drängten sich in ihre Gedanken wie der dunkle Schleier eines Traumes.

„Ihr seid gekommen, um das Fragment zu holen. Doch das Fragment wird euch nicht finden, es wird euch verlieren.“

Es war die Stimme eines Wesens, das tief in der Dunkelheit des Baumes lauerte. Es war nicht der Baum selbst, sondern etwas anderes – etwas, das die Dunkelheit des Gartens an seinen Wurzeln genährt hatte. Lyra hielt inne und starrte in die dunklen Öffnungen der Äste, in denen sie das Fragment vermutete. Doch dort, wo sie zuvor eine leuchtende, fast heilige Aura gespürt hatte, war jetzt nur Leere.

„Das Fragment… ist kein Relikt“, sagte Myria mit leiser, aber fester Stimme. „Es ist eine Erinnerung.“

„Eine Erinnerung?“ Solan wiederholte die Worte, als ob er versuchte, sie zu begreifen. „Eine Erinnerung an was?“

„An den Ursprung des Gartens“, erklärte Myria. „Der Garten wurde nicht von den Göttern erschaffen, sondern von einer Macht, die von den Sternen selbst kam. Einmal war er ein Hort des Wissens, ein Raum, in dem die Wahrheit der Welt bewahrt wurde. Doch mit der Dunkelheit, die sich ausbreitete, begannen die Erinnerungen zu verblassen. Der Garten wird mit der Zeit zu einem Gefängnis für all jene, die nach Wahrheit suchen.“

„Und wir sollen es befreien?“ fragte Sira, die sich wieder in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelt hatte. „Wie befreien wir etwas, das sich selbst vergessen hat?“

„Indem wir uns dem stellen, was wir verloren haben“, antwortete Myria und drehte sich zu ihnen. „Jeder von uns trägt etwas in sich, das er verloren hat – eine Wahrheit, ein Geheimnis, das niemals vergessen werden sollte. Doch der Garten wird es uns nicht einfach machen. Wir müssen uns selbst finden, bevor wir das Fragment erlangen können.“

Kai starrte in die Dunkelheit, die sie umgab, und spürte, wie die Dunkelheit erneut versuchte, in seine Gedanken einzudringen. Doch er kämpfte dagegen an und trat vor. „Dann lassen wir uns von ihm nicht brechen. Wir haben schon andere Prüfungen überstanden, und diese werden wir auch bestehen.“

„Der Garten stellt nicht nur unseren Körper auf die Probe“, sagte Myria, als sie weiter den Baum hinaufstiegen. „Er stellt unsere Gedanken, unsere Überzeugungen und unsere Ängste auf die Probe. Der wahre Kampf wird immer innen stattfinden.“

„Dann lasst uns den Kampf führen“, sagte Lyra fest und nahm das Fragment in ihre Hand, das in ihrer Handfläche zu pulsieren schien.

Und so stiegen sie weiter, nicht mehr nur als eine Gruppe von Gefährten, sondern als Krieger, die sich auf einen Kampf vorbereiteten, der sie alle in die tiefsten Ecken ihrer eigenen Seelen führen würde.

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