Kapitel 34: Die Schatten des Vergessens
Der Schimmer des Artefakts, das Lyra in ihren Händen hielt, war verblasst, aber der Puls der uralten Macht, der durch ihre Finger lief, ließ keinen Zweifel daran, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Die Lichtung war wieder still, als die letzte der Schattenkrieger in den Nebeln von Myria verschwand, und doch war die Atmosphäre von einer Schwere erfüllt, die sich in den Herzen aller niederschlug. Die Dunkelheit war noch nicht besiegt, sie war nur zurückgedrängt worden.
„Wir müssen weiter“, sagte Solan, seine Stimme fest, doch auch er spürte die Last, die sich mit jedem Schritt weiter in den Garten von Sahran legte. „Das Relikt, das wir gefunden haben, ist nur ein Teil. Wir dürfen nicht nachlassen.“
Lyra nickte, doch ihre Gedanken schweiften ab. Ihr Blick ruhte auf dem Artefakt, das sich noch immer wie ein lebendiger Funken in ihrer Hand anfühlte. „Die Dunkelheit ist älter, als ihr glaubt.“ Seraphines Worte hallten in ihrem Geist, und sie konnte nicht entkommen der Frage, wie viel von der Wahrheit sie wirklich verstanden hatten. Myria hatte sie gewarnt – dieser Garten, der in einer anderen Zeit eine Quelle der Weisheit gewesen war, hatte sich verändert. Die Artefakte waren der Schlüssel, aber was waren sie eigentlich? Eine Lösung, ein Werkzeug? Oder ein Fluch?
„Wie weit bis zum nächsten Fragment?“ fragte Kai, der die Stille durchbrach, als er sich zu Myria umwandte. Ihre silbernen Augen, die stets wie ein Schleier von Geheimnissen schienen, beobachteten ihn mit einer Mischung aus Mangel an Überraschung und Belustigung.
„Nicht weit“, antwortete Myria. „Doch der Weg dorthin wird euch auf die Probe stellen. Ihr habt den ersten Schattenkrieger besiegt, doch dieser Sieg war nur ein Puzzleteil. Der wahre Kampf, der zu gewinnen ist, befindet sich im Innern.“
„Innen?“ fragte Sira, die sich wieder in ihre menschliche Gestalt verwandelt hatte und einen ernsten Blick auf Myria warf. „Was genau meinst du damit?“
„Der Garten“, antwortete Myria, „ist nicht nur ein Ort. Er ist ein lebendiges Wesen. Und er schützt, was er fürchtet, vor denen, die nicht würdig sind.“
Mit dieser mysteriösen Andeutung führte Myria die Gruppe weiter, bis sie an einen der gigantischen Baumstämme hielten, deren silbrige Äste wie die Finger einer riesigen Hand den Himmel zu berühren schienen. Lyra blickte hinauf und bemerkte, dass die Blätter in seltsamen Farben glühten, als ob sie in einer anderen Dimension existierten.
„Das Fragment, das wir suchen, befindet sich dort oben“, erklärte Myria und deutete auf eine leuchtende Kluft in den Ästen des Baumes. Doch bevor sie weiter sprach, unterbrach sie ihre eigenen Worte mit einem warnenden Blick. „Seid vorsichtig. Es gibt keine Garantie, dass ihr es ohne weiteres erreichen werdet.“
Sira, die sich in eine Katze verwandelt hatte, schlich geschickt an die Basis des Baumes und begann, die massive Struktur zu erkunden. „Der Baum ist nicht nur alt, er lebt“, murmelte sie, „und er wird nicht leichtfertig einen seiner Schätze preisgeben.“
Lyra und Kai, die nun auf den Baumstamm hinaufstiegen, spürten, wie sich die Luft um sie herum veränderte. Der Duft der Blumen, der vorhin noch süß und einladend gewesen war, hatte sich gewandelt. Ein fauliger Geruch lag in der Luft, und der Nebel, der sich um sie legte, wurde dichter, als ob er sie ertränken wollte.
„Was ist das?“ fragte Kai und hielt inne, als er ein seltsames Geräusch hörte – ein leises, kratzendes Flüstern, das wie ein unverständliches Murmeln aus der Tiefe des Baumes kam. „Das klingt nicht gesund.“
„Es ist die Stimme des Gartens“, erklärte Myria leise, als sie zu ihnen hinaufblickte. „Er hat seine eigenen Hüter, die nicht mit Waffen, sondern mit Gedanken kämpfen. Seid darauf vorbereitet.“
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, begann der Baum zu erzittern. Die Äste öffneten sich, als ob sie ein lebendes Tor darstellten, und aus der Öffnung schlüpften zwei finstere Gestalten, ihre Bewegungen so fließend wie der Nebel selbst. Sie waren halb im Schatten und halb im Licht, als ob sie in zwei Welten gleichzeitig existierten.
„Die Wächter des Vergessens“, flüsterte Myria, ihre Stimme belegt. „Schwört, dass ihr nicht der Versuchung erliegt, euch von ihren Worten verführen zu lassen.“
Lyra fühlte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, als die Gestalten sich näher bewegten. Ihre Augen waren leer und doch voll von endlosem Wissen. Einer der Wächter hob seine Hand, und die Worte, die er sprach, hallten in Lyras Kopf wider, als wären sie ein Teil ihrer eigenen Gedanken.
„Du kannst alles haben, was du willst. Du musst nur den Garten für dich beanspruchen.“
„Du wirst nie die Wahrheit finden. Sie ist eine Illusion, und du bist es, die du suchst.“
Die Worte schienen wie ein ständiges Echo in ihren Gedanken zu hallen. Sie drehte sich ab, um ihre Aufmerksamkeit zu bündeln, doch der Druck war unaufhörlich.
„Lyra, bleib stark“, rief Solan, und seine Stimme schnitt wie ein scharfes Messer durch die Nebel, die ihre Sinne zu umhüllen versuchten. Er war nahe bei ihr, doch auch er war nicht unberührt von den Flüstern. „Du weißt, was richtig ist.“
Mit einem stoischen Blick wandte Lyra sich wieder den Wächtern zu. „Ich bin nicht hier, um mich zu verlocken. Ich bin hier, um die Dunkelheit zu bekämpfen.“
Kai, der inzwischen seine goldene Kette gezückt hatte, trat ebenfalls entschlossen vor. „Und wir werden euch nicht allein lassen“, fügte er hinzu, als er die Kette in eine glänzende Peitsche verwandelte, die sich wie ein Blitz durch die Luft schlängelte.
Die Wächter stießen ein unheimliches, verzerrtes Lachen aus, das die Atmosphäre um sie herum schwerer machte. Doch bevor sie weiter voranschreiten konnten, ließ Myria den Nebel aufsteigen. „Genug“, sagte sie fest, ihre Stimme schien der Dunkelheit selbst zu trotzen.
Der Nebel war wie ein unsichtbares Netz, das sich um die Wächter legte und sie in eine undurchdringliche Dunkelheit hüllte. Das Flüstern wurde schwächer, die Gestalten verschwanden, als sie sich in den Schatten zurückzogen.
„Der Garten wird immer versuchen, uns zu entmutigen“, erklärte Myria ruhig, während sie sich mit einem Schritt zurücknahm. „Doch wir sind stärker.“
Mit einem letzten Blick auf die Stelle, an der die Wächter verschwunden waren, stiegen sie weiter in den Baum hinauf, um das Fragment zu finden, das sie benötigten. Doch sie wussten, dass dies nur der Anfang der Prüfungen war, die noch vor ihnen lagen. Die Dunkelheit hatte begonnen, sich zu regen, und es war klar, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor.