Kapitel 32: Der Schatten des Krieges
Die Sonne senkte sich langsam hinter den Ruinen von Mykene, und der Klang der sich vorbereitenden Armeen hallte in der Luft. Die Atmosphäre war von einer unheimlichen Stille durchzogen, als würde die Geschichte selbst den Atem anhalten. Lyra, Solan und Kai standen nun vor einer Entscheidung, die weit über das hinausging, was sie je für möglich gehalten hatten. Der General Agamemnon, dieser Schatten der Geschichte, hatte sie auf einen gefährlichen Pfad geführt, und sie spürten alle das Gewicht ihrer Verantwortung.
„Wird es wirklich so einfach sein, wie Agamemnon es uns vorgemalt hat?“ fragte Kai, während er mit einer Hand den Armband betrachtete, der sich inzwischen zu einer feinen, goldenen Kette gewunden hatte, die in der untergehenden Sonne schimmerte. Wie ein stiller Wächter erinnerte der Armband an die Wahrheit, die sie suchten.
„Nichts in dieser Zeit ist einfach“, antwortete Solan mit seiner gewohnten Bedachtsamkeit. „Agamemnon mag ein König sein, aber er ist nicht frei von den Fäden, die in der Dunkelheit gezogen werden. Diese Kräfte, die er anspricht, sie sind real, Lyra. Und sie haben eine Agenda, die weit über das hinausgeht, was er uns zeigt.“
Lyra nickte nachdenklich. Ihre Rüstung war nun eine mächtige Bronze, in der Form der Krieger von Mykene, und ihr Schwert, das sie fest umklammerte, hatte die scharfe, kühne Klinge eines antiken Kriegers. Doch etwas an der Situation ließ sie unruhig zurück. Die Wahrheit, nach der sie suchten, war im Nebel verborgen, und je näher sie ihr kamen, desto mehr verwischten die Grenzen zwischen Freund und Feind.
„Es gibt mehr im Spiel als nur Mykene und Troja“, flüsterte Lyra, als ein plötzlicher Windstoß über das Schlachtfeld fegte. Die Zeitenwelle, die den Armband in ihr Handgelenk drängte, vibrierte kraftvoll, als würde sie sie zu einer noch unbekannten Entscheidung zwingen.
Der Ruf des Krieges war nicht das Einzige, das die Luft erfüllte. In der Ferne hörten sie das Klirren von Schwertern und die Stimmen von Kriegern, die sich für die bevorstehende Schlacht rüsteten. Doch als Lyra in den Horizont blickte, bemerkte sie etwas anderes. Etwas, das jenseits des Schattens des Krieges lag.
„Schau dort“, sagte sie leise und deutete auf eine entfernte Gruppe von Reitern, die sich auf sie zubewegten. „Das sind nicht nur Krieger. Sie tragen die Zeichen einer anderen Macht.“
Solan hob eine Augenbraue. „Ich fürchte, das sind keine Freunde von Agamemnon“, sagte er, als er die Boten der Unruhe erkannte, die sich ihnen näherten. „Wir sollten uns darauf vorbereiten.“
Doch bevor sie reagieren konnten, hatte sich die Gruppe bereits aufgelöst. Die Reiter, die sich als seltsame Gestalten entpuppten, verschwanden in einem dichten Nebel, der sich plötzlich ausbreitete, als ob er aus dem Nichts geboren worden wäre. Der Nebel war kalt und unheimlich, ein Zeichen für die Mächte, die jenseits des Krieges lauerten.
„Die Meister der Nebel“, murmelte Solan. „Myria Dunkelmond. Sie ist in diesen Kriegen nicht zu unterschätzen.“
Lyra und Kai sahen sich an. Die Nebel, die sie gerade gesehen hatten, waren kein Zufall. Es war eine Macht, die auf ihre eigene Weise mit der Dunkelheit spielte. Doch bevor sie weiter nachdenken konnten, spürte Lyra eine seltsame Welle, die von ihrem Armband ausging.
Plötzlich war sie wieder an einem anderen Ort. Die Landschaft hatte sich verändert, und sie standen nun vor einem gigantischen Bauwerk. Ein Werk, das auf den ersten Blick fast überirdisch wirkte. „Das ist der Tempel von Artemis“, flüsterte Solan, als er die Architektur erkannte.
Doch etwas war nicht richtig. Der Tempel stand nicht wie ein historisches Relikt der Vergangenheit, sondern wie ein sich im Nebel manifestierendes Monument, das in keiner bekannten Zeit verankert zu sein schien.
„Die Vergangenheit, die wir kennen, ist nicht die wahre Vergangenheit“, sagte Solan leise, als er das schimmernde Artefakt am Handgelenk von Lyra betrachtete, das sich nun zu einem eleganten Anhänger in Form eines heiligen Amuletts verwandelt hatte. Es war ein Zeichen der Verbindung zwischen den Dimensionen der Zeit.
„Was wollen wir hier? Was können wir hier tun?“ fragte Kai, der die Kälte des Ortes bereits spürte.
„Wir müssen eine Entscheidung treffen, bevor wir wieder in den Kriegen verschwinden“, antwortete Lyra entschlossen. „Diese Tempel, diese Orte der Macht… sie sind Schlüssel zu den Wahrheiten, die wir suchen.“
In diesem Moment trat eine neue Gestalt aus dem Nebel. Eine Frau, in strahlendem weißen Gewand, mit einer Aura von Macht, die fast greifbar war. Ihre Augen blitzten in einem tiefen Blau, und sie trug ein Amulett, das sich in der Dunkelheit zu bewegen schien.
„Ihr sucht die Wahrheit“, sagte sie mit einer Stimme, die tief und unergründlich war. „Doch die Wahrheit ist gefährlich. Sie kann die Welt zerstören oder sie retten. Wählt weise.“
„Wer bist du?“ fragte Lyra, die sofort spürte, dass diese Frau mehr wusste, als sie bereit war, zu offenbaren.
„Ich bin Seraphine Veyra, die Visionärin“, antwortete die Frau ruhig. „Ich sehe die Zukunft. Und eure Reise steht an einem Wendepunkt. Was ihr heute entscheidet, wird das Schicksal der Welt beeinflussen. Doch wisst dies: Es gibt Kräfte, die diese Wahrheit nicht dulden. Sie werden alles tun, um sie zu verbergen.“
„Und wer sind diese Kräfte?“ fragte Solan, der in den Augen der Frau eine Bedrohung erkannte.
„Die Dunkelheit ist viel älter als alles, was ihr kennt“, sagte Seraphine. „Sie ist tief in den Schatten der Geschichte verankert. Die Schattenloge. Mephos, der dunkle Regent, hat viele Fäden in dieser Geschichte gesponnen. Ihr müsst euch ihm stellen.“
Lyra spürte ein kaltes Frösteln, als der Name „Mephos“ aus den Lippen der Frau kam. Ein Name, der in den Legenden der Schattenwelt flüsternd erwähnt wurde.
„Das bedeutet, wir sind nicht allein auf dieser Reise“, sagte Kai nachdenklich. „Es gibt noch andere, die unsere Entscheidungen beeinflussen wollen.“
„Genau“, antwortete Seraphine. „Doch um gegen die Dunkelheit zu bestehen, müsst ihr lernen, die Zeit selbst zu beherrschen. Denn der wahre Schlüssel liegt in den Artefakten. Jeder von euch wird eines entdecken. Und dann… wird die Entscheidung über die Zukunft der Welt in euren Händen liegen.“
Mit diesen Worten verschwand sie wieder in den Nebel, als wäre sie nie dort gewesen. Doch ihre Worte hallten in Lyra’s Geist wider. Die Zeitenwelle, das Artefakt, der Schlüssel – all diese Teile fügten sich langsam zusammen.
„Wir müssen die Dunkelheit besiegen“, sagte Lyra entschlossen, während der Armband an ihrem Handgelenk erneut zu pulsieren begann.
„Ja“, antwortete Solan. „Doch wir müssen zuerst den Ursprung dieser Dunkelheit finden.“
Und so begannen sie erneut ihre Reise, diesmal auf den Spuren der verlorenen Artefakte, in der Hoffnung, das Geheimnis zu lüften und die Welt vor der Dunkelheit zu retten. Die Zeit stand still, und der Weg vor ihnen war von unendlicher Ungewissheit durchzogen. Doch Lyra wusste, dass dies erst der Anfang war.