Kapitel 28: Die Quelle des Wissens

Rb
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Kapitel 28: Die Quelle des Wissens

Die Wellen des Flusses rissen sie erneut mit sich, als der Boden unter ihren Füßen bebte und die Welt um sie in ein schimmerndes Dämmerlicht tauchte. Die Farben der Landschaft begannen sich zu verschieben, der Himmel nahm einen goldenen Schein an, der allmählich in ein tiefes Blau überging. Lyra spürte, wie ihre Kleidung sich transformierte – die Lederrüstung war nun glänzend und verziert, und der Dolch an Kais Seite schien in der Dunkelheit zu leuchten, als wäre er selbst ein Relikt der Vergangenheit.

„Wo sind wir jetzt?“, fragte Kai, seine Stimme war ruhig, aber er konnte die Spannung in der Luft förmlich greifen.

„Das hier… es fühlt sich vertraut an“, murmelte Solan und trat einen Schritt nach vorne. „Wir sind in der Nähe eines bedeutenden Ortes, einer Quelle von Wissen, die lange Zeit verloren war.“

Die Umgebung um sie herum war noch immer von einer geheimnisvollen Atmosphäre durchzogen, als sie auf ein gewaltiges Gebäude zusteuerten, dessen Ruinen sich majestätisch gegen den Himmel abzeichneten. Der Fluss hatte sie zu einem neuen Punkt in der Zeit geführt, einem Ort, an dem die Wände aus uraltem Stein und die stillen Türme die Geschichten längst vergangener Tage flüsterten.

„Das ist es“, sagte Solan leise, als er sich die Ruinen genauer ansah. „Die Große Bibliothek von Alexandria, aber nicht die, die wir kennen. Diese Bibliothek ist älter, sie trägt das wahre Wissen der Menschheit. Sie ist der Ursprung all dessen, was wir zu wissen glauben.“

„Du meinst, wir stehen vor der Quelle des Wissens?“, fragte Lyra und trat vorsichtig näher, als ein warmer Wind aufkam, der ihre Haare in alle Richtungen zog.

„Ja“, antwortete Solan mit einem ernsten Blick. „Und genau wie der Fluss wird auch dieses Wissen nicht ohne einen Preis zu haben sein. Hier, in dieser Bibliothek, findest du nicht nur Antworten, sondern auch Fragen, die dich selbst in Zweifel stürzen werden.“

Der Wächter der Ströme erschien erneut, dieses Mal in einem Gewand aus silbernen Tüchern, das in den flimmernden Sonnenstrahlen glänzte. Er schwebte vor ihnen, die Augen dunkel und weise, doch jetzt lag etwas anderes in seinem Blick, eine unterschwellige Warnung.

„Ihr seid gekommen, um die Quelle zu finden, aber seid euch bewusst, dass das Wissen hier nicht nur offenbart, sondern auch geprüft werden will“, sagte er mit einer Stimme, die die Luft selbst zu durchdringen schien. „Was ihr in dieser Bibliothek entdeckt, könnte euch verändern – auf eine Weise, die ihr noch nicht begreifen könnt.“

„Was bedeutet das?“, fragte Lyra, die das Gefühl hatte, als würden die Wände um sie herum flimmern, als würden sie in einem langen, fließenden Moment der Zeit gefangen sein.

„Das Wissen, das hier verborgen liegt, ist nicht nur aus der Vergangenheit“, erklärte der Wächter. „Es umfasst die gesamte Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind miteinander verwoben. Ihr werdet es verstehen, wenn ihr den Fluss des Wissens zu eurem eigenen macht.“

Plötzlich ertönte ein Laut, der wie das Knarren von Holz und das Zischen von Feuer zugleich war, und die Ruinen der Bibliothek begannen sich zu verändern. Der Eingang öffnete sich, und ein goldener Lichtstrahl brach durch die Dunkelheit, beleuchtete die staubigen Seiten und verborgenen Texte der alten Bücher. Doch der Moment war flüchtig – der Fluss bewegte sich weiter und drängte sie voran.

„Lasst uns eintreten“, sagte Solan mit einem entschlossenen Nicken, und die Gruppe trat durch das Tor. Als sie eintraten, spürten sie, wie sich die Atmosphäre verdichtete. Die Luft war warm und schwer, der Geruch von altem Papier und versunkenen Geheimnissen erfüllte ihre Lungen.

„Dieser Ort hat das Potenzial, alles zu verändern“, murmelte Kai, als er in den Raum schaute, der sich vor ihnen ausbreitete. Bücherregale erstreckten sich bis zum Horizont, und das Licht, das von den goldenen Flügeln des Portals reflektiert wurde, warf lange Schatten, die sich unendlich dehnten.

„Was müssen wir tun?“, fragte Lyra, die spürte, wie die Zeit hier anders lief. Die Wände flüsterten ihre Geheimnisse, als ob sie in der Lage wären, in ihre Gedanken einzutauchen.

„Wir müssen das Buch finden, das das wahre Wissen enthält“, antwortete Solan. „Es ist das Herz dieser Bibliothek. Doch bevor wir es erreichen, müssen wir die Prüfungen bestehen, die hier verborgen sind.“

Ein leises Geräusch ertönte, und ein flimmerndes, dunkles Wesen erschien vor ihnen – ein Wächter der Bibliothek, eine Kreatur aus Schatten, die sich wie eine lebendige Dämmerung bewegte. Ihre Augen leuchteten in einem grünlichen Schein, der an das Glühen von Phosphor erinnerte.

„Ihr wollt das Buch des Wissens finden?“, fragte der Wächter mit einer Stimme, die wie der Klang von tausend Flüstern war. „Dann müsst ihr die Prüfungen der Seele bestehen. Denn wahres Wissen kann nur von denen getragen werden, die bereit sind, sich selbst zu erkennen und zu verändern.“

„Was genau bedeutet das?“, fragte Kai, sein Blick prüfend, aber auch mit einer Spur von Humor, wie immer, wenn er einer neuen Herausforderung begegnete.

„Ihr werdet die tiefsten Geheimnisse eurer selbst erkennen müssen. Ihr werdet die Wahrheit erfahren, nicht nur über die Welt, sondern auch über das, was ihr fürchtet und was euch antreibt. Seid ihr bereit, euch dieser Wahrheit zu stellen?“

„Wenn das der Weg ist, dann sind wir bereit“, sagte Solan mit einer Festigkeit in der Stimme, die Lyra den Atem raubte. Der alte Historiker war immer von einer unerschütterlichen Ruhe, doch in diesem Moment schien er selbst von der Schwere des Moments berührt zu sein.

„Dann tretet ein und erhaltet die Wahrheit“, sagte der Wächter und verschwand ebenso schnell, wie er erschienen war.

Die Gruppe trat weiter voran, die Bücherregale öffneten sich vor ihnen und enthüllten ein Labyrinth aus Geschichten und Schriften, die das Wissen der Welt in sich trugen. Doch in der Ferne, hinter einer gewaltigen, steinernen Tür, lag das Buch des Wissens – ihr Ziel. Doch wie der Wächter gesagt hatte, war der Weg dorthin nicht einfach. Prüfungen warteten auf sie.

„Was denkst du, Lyra?“, fragte Solan, als er neben ihr trat. „Hast du das Gefühl, dass dies der letzte Schritt ist?“

Lyra blickte auf das Tor, das sich vor ihnen öffnete, und nickte. „Ich denke, dass dies mehr ist als nur Wissen. Es ist die Antwort auf alles. Und vielleicht auch die Antwort auf uns.“

Das Tor öffnete sich und sie traten in den Raum des Wissens ein – ungewiss, was die Prüfungen noch für sie bereithielten.

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