Kapitel 27: Die Wellen der Zeit
Der Boden bebte erneut unter ihren Füßen, als der Fluss sie weiter in die Weiten der Geschichte zog. Lyra, Solan und Kai standen zusammen, fest aneinander geschmiegt gegen die Dränge der Zeit. Der goldene Schein des Flusses verblasste in ein tiefes Blau, und die Welt um sie begann sich in einem sanften Schimmer zu verdunkeln. Lyra konnte das sanfte Rauschen von Wellen hören – es war, als ob der Fluss der Zeit in den Ozean überging.
„Wo sind wir diesmal?“, fragte Kai, seine Stimme war ruhig, aber auch von einer seltsamen Anspannung durchzogen. Schon oft hatte er an diesem Ort die Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft überschritten, doch diesmal fühlte sich alles anders an.
„Wir müssen in einer Zeit vor Atlantis sein“, antwortete Solan, während er aufmerksam die Umgebung betrachtete. „Der Übergang zwischen den großen Zivilisationen, als der Mythos von Atlantis noch lebendig war.“
Sie standen auf einem steinigen Ufer, umgeben von riesigen Felsen, die in der Ferne das Bild einer versunkenen Insel zeichneten. Das Land war grün und wild, und in der Ferne konnte Lyra die Umrisse von Gebäuden erkennen, die an eine Stadt erinnerten – aber nicht irgendeine Stadt. Es war die Stadt der Minoer, Knossos, ein Ort voller Geheimnisse.
„Es fühlt sich an, als ob wir in einem Traum sind“, flüsterte Lyra, als sie sich langsam umdrehte und die alte, zerfallene Stadt betrachtete. Die Wände waren von Efeu überwuchert, und in den Gassen wehte ein kalter Wind, der nach Salzwasser roch.
„Es ist nicht nur der Ort, der sich verändert hat“, sagte Solan und blickte auf das Artefakt an seinem Handgelenk. Die Kette hatte sich von einem Armband in ein zartes, silbernes Band verwandelt, das sich um seinen Arm legte und in der Dunkelheit schimmerte. „Die Zeit… sie ist nicht einfach verschwunden. Sie ist um uns herum, verändert sich mit uns.“
„Der Fluss lässt uns nicht in Ruhe“, sagte Kai mit einem Blick, der fast wie ein Lächeln wirkte. „Aber vielleicht ist es gut so. Wir haben das Gefühl, dass wir die Wahrheit erkennen, aber jede Welle des Flusses bringt uns nur zu einer neuen Frage.“
Plötzlich erschien der Wächter der Ströme vor ihnen, wie aus dem Nichts. Diesmal war er nicht in einer antiken Robe gehüllt, sondern trug das Gewand eines Priesters – eine Kombination aus silbernen, schimmernden Tüchern, die im Wind wehten. Seine Augen waren dunkel und durchdringend, aber sie glühten jetzt mit einer unheilvollen Weisheit.
„Ihr habt den Ort erreicht, den nur wenige je betreten konnten“, sagte er mit einer Stimme, die wie ein fernes Echo klang. „Die Stadt Knossos ist der Schlüssel zu einem weiteren Teil des Geheimnisses. Aber hier, an diesem Punkt der Zeit, werdet ihr euch selbst erkennen müssen, wenn ihr weitergehen wollt.“
„Was meinst du mit ‚erkennen‘?“, fragte Lyra, die der tiefen Bedeutung in seiner Stimme nachspürte. „Wir haben so viele Geheimnisse entdeckt, und trotzdem ist die Wahrheit immer noch verschwommen.“
„Ihr habt euch selbst verloren, wie der Fluss es mit vielen getan hat“, sagte der Wächter. „Der Fluss ist ein Spiegel, der die verborgenen Aspekte eurer Seelen offenbart. Ihr habt mehr als nur die Geschichte der Menschheit gesehen – ihr habt auch die Geheimnisse der eigenen Zeit entdeckt. Doch hier in Knossos liegt ein Teil der Wahrheit, der weit über euer Wissen hinausgeht. Ihr müsst die verborgene Quelle finden.“
„Die Quelle?“ fragte Solan, und seine Stirn legte sich in Falten. „Was ist diese Quelle?“
„Die Quelle des Wissens, das die Welt verändern wird“, erklärte der Wächter. „Sie ist die Essenz aller Dinge, ein Geheimnis, das von den alten Zivilisationen entdeckt, aber niemals vollständig verstanden wurde. Nur wer die Wahrheit hinter dieser Quelle erkennt, kann den Fluss meistern.“
Der Fluss begann erneut zu toben, und die Welt um sie herum änderte sich. Lyra konnte spüren, wie ihre Kleidung sich anpasste. Der Stoff ihrer Tunika verwandelte sich, wurde robuster und änderte sich zu einer Lederrüstung, die den Minoern der Zeit von Knossos ähnlicher war. Solan trug nun ein langes Gewand, das mit Hieroglyphen bestickt war, und Kai hatte einen Dolch an seiner Seite, der aus einem Material geschmiedet war, das den Elementen trotzen konnte.
„Dies ist nicht der Knossos, den wir kennen“, sagte Kai, als er die Gegend genauer betrachtete. „Der Fluss hat uns nicht nur in der Zeit, sondern auch in einer Parallelwelt geführt. Diese Stadt hat eine Geschichte, die in keinem Buch steht. Sie ist die Wiege der Zivilisation, wie sie nie existiert ist.“
„Das ist die wahre Knossos“, sagte Solan. „Der Ursprung, bevor die Legenden die Realität übertrafen.“
Der Wächter schwebte vor ihnen, als er die Veränderungen in ihrer Ausrüstung und Umgebung betrachtete. „Ihr habt die Wahrheit erkannt“, sagte er schließlich. „Der Fluss führt euch zu den vergessenen Orten und vergessenen Wahrheiten. Aber er wird euch nie vollständig enthüllen, bis ihr den nächsten Schritt wagt.“
„Wo führt uns der Fluss als Nächstes?“, fragte Lyra, ihre Stimme von Neugier und Entschlossenheit geprägt.
„Der Fluss kennt keine Grenzen“, antwortete der Wächter. „Er kann euch an die Spitze des Olymps führen, wo Zeus herrscht, oder in die versunkenen Hallen von Atlantis, wo die Götter einst über das Schicksal der Welt entschieden. Doch euer Ziel liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Und in der Zukunft werdet ihr diejenigen treffen, die die wahre Macht über den Fluss besitzen. Nur dann werdet ihr den Fluss in den Griff bekommen.“
Der Boden begann wieder zu vibrieren, und sie spürten die nächste Veränderung. Lyra sah, wie sich das Licht der Umgebung veränderte – es wurde kühler, als ob der Fluss sie zu einem weiteren Punkt der Reise ziehen würde. Sie wusste, dass die Reise noch lange nicht zu Ende war. Und dass sie, je tiefer sie in die Geschichte eindrangen, immer mehr über sich selbst und die geheimen Kräfte des Artefakts erfahren würden.
„Bereit?“, fragte Kai, und seine Stimme war wieder der vertraute Klang eines Abenteurers, der weiß, dass jedes neue Ziel ein weiteres Rätsel bereithielt.
„Bereit“, antwortete Lyra, und der Fluss zog sie weiter, tiefer in das unbekannte Reich der Zeit.