Kapitel 25: Der Wächter der Ströme
Lyra spürte das Artefakt an ihrem Arm pulsieren, ein unaufhörliches Pochen, das sich durch ihre Adern zog. Es war, als ob der Fluss selbst in ihr floss, als ob ihre Seele mit der Zeit verwoben war. Doch noch immer war sie sich der Herausforderung bewusst, die vor ihnen lag: Der Wächter der Ströme – eine Erscheinung, die den Fluss der Zeit bewachte und in den Tiefen von Mu verborgen war. Er war mehr als nur ein Wächter aus Fleisch und Blut. Er war die Zeit selbst, die Manifestation der Kräfte, die das Universum zusammenhielten.
„Der Moment wird sich bald ändern“, flüsterte Solan, der sich auf das Artefakt konzentrierte. „Wir müssen den Fluss verstehen, bevor wir uns dem Wächter stellen. Er wird uns testen. Der Weg zu den wahren Ursprüngen der Zivilisationen wird durch seine Prüfungen versperrt.“
Lyra nickte, während sie ihre Hand auf das Artefakt legte. Es hatte sich mittlerweile zu einem eleganten, goldenen Armband verwandelt, der in der Sonne funkelte, als wäre er lebendig. Das Artefakt hatte eine eigene Energie, eine Schwingung, die sie auf einer tieferen Ebene verstand. Es war nicht nur ein Schlüssel zu den Geheimnissen der Vergangenheit, sondern auch zu den Geheimnissen ihrer eigenen Bestimmung.
„Der Wächter wird nicht einfach nachgeben“, sagte Kai, der mit einem prüfenden Blick in die Ferne starrte. „Aber vielleicht gibt es einen Weg, ihn zu umgehen. Wir haben doch schon öfter mit den Kräften der Zeit gearbeitet.“
„Der Fluss ist nicht linear“, fügte Solan hinzu. „Er ist wie das Netzwerk von Adern in einem lebendigen Körper. Wenn wir den richtigen Moment finden, können wir die Strömung nutzen und uns vor dem Wächter verstecken.“
Der Fluss vor ihnen begann sich zu kräuseln, als ob er selbst auf die Worte von Solan reagierte. Der mächtige Strom schien sich zu verflüssigen und in alle Richtungen auszubreiten, ein Fließen von Licht und Schatten, das den Raum und die Zeit zu zerreißen schien.
„Es ist Zeit“, sagte Lyra, ihre Stimme fest und ruhig. „Wir müssen weitergehen. Wir können nicht auf den Moment warten, in dem die Zeit sich gegen uns wendet.“
Langsam begannen sie, sich durch die Stadt von Mu zu bewegen, ihre Schritte hallten auf den goldenen Straßen, deren Oberflächen in der Dämmerung schimmerten. Die Gebäude, die zuvor wie unnahbare Monumente aus einer anderen Welt wirkten, nahmen nun eine lebendige Gestalt an, die auf seltsame Weise die Konturen der Realität verzerrte. Hier und dort verschwanden Wände in Nebelschwaden, und Lichtstrahlen brachen sich in allen Farben des Regenbogens, als ob sie die Zeit selbst zersplitterten.
„Wir sind in der Vergangenheit, aber sie ist nicht, wie wir sie uns vorgestellt haben“, murmelte Kai, der nun seine Waffe, ein antikes Schwert, in den Händen hielt. „Alles hier ist ein Relikt, das in der Zeit lebt.“
„Und das Artefakt wird uns immer begleiten“, sagte Solan nachdenklich. „Es ist der Schlüssel, um die Zeit selbst zu beherrschen.“
Gerade als sie sich der Mitte der Stadt näherten, wo das monumentale Denkmal stand, spürte Lyra einen unheimlichen Druck in der Luft. Es war, als ob die Zeit selbst sie beobachtete, ihre Schritte und Gedanken prüfte. In einem Augenblick verwandelte sich die Stadt um sie herum erneut. Sie waren plötzlich nicht mehr in Mu, sondern an einem anderen Ort, einem Ort, den Lyra schon einmal gesehen hatte. Ein weiterer Moment, der sich der Vergangenheit widersetzte.
„Das ist… der Tempel von Karnak“, sagte Solan. „Ich habe ihn schon einmal in einem alten Manuskript gesehen. Es ist, als ob die Zeitlinie sich überlappen würde.“
„Wie ist das möglich?“, fragte Kai, der die Wand des Tempels mit einem misstrauischen Blick musterte. „Haben wir die Grenze überschritten?“
„Der Fluss ist keine gerade Linie“, erklärte Solan ruhig. „Er kann uns an viele Orte gleichzeitig führen, wenn er es für nötig hält. Der Wächter ist nicht nur ein Hindernis, er ist ein Spiegel der Zeit. Wir müssen uns ihm stellen, aber wir müssen auch wissen, dass er uns in die Vergangenheit und die Zukunft führen kann.“
„Wenn wir uns ihm stellen müssen, wie können wir dann gewinnen?“, fragte Lyra, ihre Stimme fest, doch mit einem Hauch von Unsicherheit.
„Indem wir den Moment begreifen“, sagte Solan. „Der Wächter wird nicht die Zeit selbst beherrschen, sondern die Momente, in denen die Zeit sich verwandelt. Wir müssen wissen, wann wir handeln müssen.“
In diesem Moment erschien der Wächter. Er war keine feste Gestalt, sondern eine flimmernde, schattenhafte Erscheinung, die sich zwischen den Ritzen der Zeit und des Raums bewegte. Seine Augen, wenn man sie als solche bezeichnen konnte, leuchteten wie zwei schwarze Löcher, die in der Dunkelheit schwelten.
„Ihr habt den Fluss betreten“, sprach er mit einer Stimme, die wie der Wind in einem alten Wald klang. „Doch dieser Fluss gehört nicht euch. Ihr seid nur Wanderer in meinem Reich. Wenn ihr vorankommen wollt, müsst ihr den Test bestehen.“
„Was für ein Test?“, fragte Lyra, die sich nun mit einer Klinge in der Hand bereit hielt. Ihr Artefakt, der goldene Armband, begann zu vibrieren, als ob er auf den Wächter reagierte.
„Der Test ist die Wahrheit“, antwortete der Wächter. „Die Wahrheit über die Zeit, die Wahrheit über euer Schicksal. Ihr werdet mit euren eigenen Ängsten konfrontiert werden. Wenn ihr sie überwindet, werdet ihr weiterreisen können.“
Die Luft um sie herum begann zu flimmern, und die Schatten der Vergangenheit tanzten um Lyra und ihre Gefährten. Lyra wusste, dass der Wächter sie in die tiefsten Winkel der Geschichte führen würde, wo ihre eigenen Wahrheiten und Ängste auf sie warteten. Doch sie war bereit, der Herausforderung zu begegnen.
„Wir haben nichts zu verlieren“, sagte Kai und trat vor. „Und alles zu gewinnen.“
„Wir müssen die Wahrheit suchen“, sagte Solan, und ein Funken Entschlossenheit blitzte in seinen Augen.
„Dann lasst den Test beginnen“, flüsterte Lyra, und der Fluss der Zeit begann, sie mit sich zu ziehen.