Kapitel 23: Das Flimmern der Zeit
Lyra trat vorsichtig an den Fluss, dessen Wasser in unerklärlicher Weise zwischen den Zeitebenen zu fließen schien. Jede Welle des Wassers verzerrte das Bild der Stadt Atlantis, mal schien sie blitzschnell in die Vergangenheit zu reisen, mal in die ferne Zukunft. Die Dämmerung hatte bereits den Horizont erfasst, und die blauen Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten sich in dem undurchsichtigen Wasser. Der Fluss pulsierte, als ob er mit dem Atem der Zeit selbst verbunden war.
„Haltet euch aneinander fest“, sagte Kai und legte seine Hand fest auf Lyras Schulter. Der Wind hatte sich zu einem Sturm aufgebauscht, der die feinen Sandkörner wie winzige Geschosse durch die Luft fegte. „Die Zeit hier ist fließend. Wir dürfen uns nicht verlieren.“
Solan stand an der Spitze der Gruppe, mit einem Gesichtsausdruck, der sowohl nachdenklich als auch beunruhigt wirkte. „Die Wahrheit, von der Kleon sprach, ist kein einfacher Begriff. Sie ist wie der Fluss, ständig in Bewegung, schwer fassbar. Um sie zu begreifen, müssen wir mehr tun, als nur den Fluss zu betreten. Wir müssen uns in ihm verlieren.“
„Dann los“, sagte Lyra und trat einen Schritt vorwärts. Das Artefakt um ihren Hals pulsierte stärker, als ob es die Veränderung spürte. Ihre Augen weiteten sich, als sie das Wasser berührte. Anstatt zu ertrinken, spürte sie, wie sich ihre Gestalt anpasste, als ob sie mit der Zeit selbst verschmolz. Ihr Kleid, zuvor noch aus leichtem, modernem Stoff, verwandelte sich in feinste, antike Gewänder, die den Glanz der vergessenen Zivilisation von Atlantis trugen. Auch ihre Gefährten wurden von dieser Transformation ergriffen: Solan, Kai und der Rest der Gruppe hatten nun Kleidung, die der Mode der alten Welt entsprach, als ob sie schon immer in dieser Ära beheimatet gewesen wären.
„Das ist der erste Schritt“, murmelte Solan, „die Zeit passt sich an. Und wir auch.“
Der Fluss der Zeit war ein lebendiger, atmender Organismus, der die Welt um sie herum in ständige Bewegung versetzte. Der Himmel über ihnen, der gerade noch in tiefem Blau erstrahlt hatte, veränderte sich mit jedem Moment. Mal war er die Farbe von aufbrechendem Sturm, dann wieder strahlend klar, fast als ob sie in verschiedene Epochen gleichzeitig blicken konnten.
„Wir müssen dem Fluss folgen, aber vorsichtig sein“, sagte Kai, als er in die Ferne starrte. „Die Zeitenwellen können uns in unbekannte Epochen schleudern. Wir müssen wissen, wohin wir wollen, bevor wir einen Schritt tun.“
„Der Tempel liegt noch tief in der Stadt, weiter flussaufwärts“, antwortete Lyra, ihre Stimme fest. „Ich fühle es. Das Artefakt führt uns.“
Sie gingen weiter, der Fluss begleitete sie, mal ruhig, mal stürmisch, doch immer ein Schritt voraus. Die Erde unter ihren Füßen schien sich zu verändern, als ob sie immer wieder an die gleiche Stelle zurückkehrten, doch die Zeit war unbeständig. In einem Moment standen sie an einem Ort, den sie bereits kannten: eine majestätische Brücke aus Stein, die über den Fluss spannte. Doch als sie genauer hinsahen, war der Zustand der Brücke verändert. Wo zuvor Risse in den Steinen gewesen waren, war sie nun makellos, als ob sie in ihrer Blütezeit existierte.
„Das ist nicht möglich“, flüsterte Solan und griff nach Lyras Arm. „Wir haben diesen Ort schon gesehen. Aber jetzt ist er anders. Es ist, als ob wir in eine andere Zeitlinie eingetreten sind.“
„Und trotzdem sind wir noch hier“, sagte Kai und blickte sich um. „Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass der Fluss uns nicht nur durch Zeit und Raum führt, sondern auch durch alternative Wirklichkeiten.“
„Die Wahrheit über Atlantis ist wie der Fluss selbst“, sagte Lyra, „immer in Bewegung und von unschätzbarem Wert. Wir müssen sie finden, bevor der Wächter uns einholt.“
Plötzlich hörten sie das Dröhnen des Wächter, der ihnen immer näher kam. Der riesige Schatten des Wesens wuchs, als ob er sich aus der Dunkelheit des Flusses formte. „Er ist schneller als wir“, sagte Solan mit einem Stirnrunzeln. „Er spürt die Veränderung der Zeit. Vielleicht versucht er, uns zu stoppen, bevor wir die Wahrheit begreifen.“
„Oder er ist selbst Teil dieses Spiels“, sagte Kai. „Vielleicht ist der Wächter nicht nur der Hüter, sondern auch ein Wächter des Flusses der Zeit.“
„Wir müssen uns beeilen“, drängte Lyra, als der Wächter näher kam und die Landschaft um sie herum mit einer unheilvollen Präsenz erfüllte. Ihre Schritte wurden schneller, als sie dem Fluss folgten, der sie weiter in das Herz von Atlantis führte.
Plötzlich hörte sie eine Stimme, die aus der Tiefe des Flusses drang. „Der Fluss der Zeit wird euch nicht gewähren, was ihr sucht, wenn ihr nicht die wahre Bedeutung der Zeit begreift.“
Es war die Stimme des Wächter, die in der Luft vibrierte. Doch diesmal klang sie nicht wie ein Befehl, sondern wie eine Warnung, wie ein Hilferuf aus einer Ära, die längst verloren war.
„Was bedeutet es?“ fragte Lyra laut, als sie in den Fluss starrte. „Was müssen wir verstehen, um den Wächter zu besiegen?“
Die Antwort kam in einem plötzlichen, blenden Licht. Der Fluss spaltete sich vor ihren Augen und enthüllte eine gewaltige Vision. Eine andere Zeit. Eine andere Ära.
„Atlantis“, sagte Solan, seine Stimme ehrfürchtig. „Aber nicht das Atlantis, das wir kennen. Dies ist die wahre Form der Stadt, bevor sie von der Zeit verschlungen wurde.“
In der Vision stand Atlantis in voller Pracht vor ihnen: prachtvolle Tempel, die in den Himmel ragten, riesige Statuen von Göttern, deren Blicke in die Unendlichkeit gerichtet waren. Doch auch hier war der Fluss nicht ruhig. Wellen von Energie stießen gegen die Mauern der Stadt, die zu zerbrechen drohten. Der Fluss der Zeit hatte auch dieses Atlantis nicht verschont. Doch inmitten des Chaos, im Zentrum der Stadt, stand ein Monument, das sie noch nie zuvor gesehen hatten.
„Das ist der Schlüssel“, sagte Solan. „Das Artefakt, das uns den Weg zum Tempel zeigen wird.“
„Dann müssen wir dorthin“, sagte Lyra, und ohne ein weiteres Wort eilte sie vorwärts.
„Beeilt euch!“, rief Kai. „Der Wächter ist nicht weit entfernt.“
Doch als sie weitergingen, wurde Lyra klar, dass der wahre Feind nicht der Wächter war. Der wahre Feind war die Zeit selbst, die sie immer weiter in ihre Klauen zog. Sie mussten das Artefakt finden und die Wahrheit begreifen, bevor sie von ihr verschlungen wurden.