Kapitel 20: Der Fluss der Zeit
Das schwere Tor der Kammer schloss sich mit einem dröhnenden Geräusch, als Lyra, Solan und Kai in das Innere der geheimen Halle traten. Der Raum war riesig, die Wände aus poliertem Obsidian, dessen spiegelglatte Oberfläche das flimmernde Licht der goldenen Inschriften reflektierte. Diese Inschriften schlängelten sich über die Wände wie lebendige Adern, die in einem sanften Rhythmus pulsierten. Der Raum atmete förmlich, als ob er selbst ein Wesen wäre, dessen Existenz von der Zeit beeinflusst wurde. Lyra konnte das Kribbeln der Energie in der Luft förmlich spüren – dieser Ort war der Ursprung der Zeitenwelle, der Punkt, an dem alles begann.
„Es fühlt sich an, als würde der Raum selbst atmen“, sagte Kai mit einer leicht zitternden Stimme, als er mit den Fingern über die kühle Wand strich, die unter seinen Händen zu vibrieren schien. „Alles hier scheint… lebendig.“
„Die Zeit ist nicht nur eine Dimension“, erklärte Solan mit einem ernsten Blick, während er die Wand weiter absuchte. „Sie ist ein lebendiges Gewebe, das alles miteinander verbindet. Atlantis, dieser Ort, er ist ein Knotenpunkt. Wenn wir den richtigen Pfad finden, können wir die Kräfte der Zeit kontrollieren.“
Lyra trat einen Schritt vor und betrachtete die Wandmalereien, die die Wände zierten. Szenen von gewaltigen Kriegen, göttlichen Wesen, die über die Menschen herrschten, und mystischen Artefakten, die in den Händen von Helden gehalten wurden. Eine Darstellung stach besonders hervor: Ein Mann, der ein goldenes Armband trug, das im flimmernden Licht glänzte. „Das Artefakt“, murmelte Lyra, als sie es erkannte. „Das Artefakt, das wir suchen.“
„Es ist der Schlüssel“, sagte Solan, der näher trat. „Der Schlüssel zur Kontrolle über den Fluss der Zeit. Doch es gibt viele, die diesen Schlüssel begehren.“
„Und nicht alle von ihnen haben gute Absichten“, fügte Kai hinzu, während er vorsichtig das Artefakt auf dem Altar betrachtete.
Kaum hatte er das Artefakt berührt, spürte Lyra, wie sich die Atmosphäre im Raum schlagartig veränderte. Die Luft wurde schwerer, und plötzlich flimmerte eine Silhouette vor ihnen auf – Aric Darvhan, der Schattenflüsterer. Er schien wie aus dem Nichts entstanden zu sein, als ob er die Grenzen der Realität selbst verbogen hätte.
„Ihr versteht es nicht, oder?“, sagte Aric mit einer ruhigen, aber festen Stimme, seine Worte hallten wie ein leises Echo durch die Kammer. „Das Artefakt ist kein Geschenk. Es ist ein Fluch, der die Zeit selbst in Gefahr bringen kann. Wenn ihr es nehmt, werdet ihr nicht nur Atlantis verändern – sondern die ganze Welt.“
„Du bist nicht der Hüter des Schattens“, erwiderte Solan ruhig, „sondern der Wächter des Abgrunds. Du versuchst uns zu warnen, weil du weißt, was auf dem Spiel steht.“
„Es gibt keinen Platz für Helden in der Geschichte der Zeit“, sagte Aric. Seine Augen glühten in der Dunkelheit, wie glühende Kohlen in einer zerfallenen Kammer. „Nur für jene, die das Gleichgewicht wahren können. Und ihr seid nicht bereit, dieses Gleichgewicht zu tragen.“
„Was schlägst du vor?“, fragte Lyra, ihre Stimme fest, trotz der Aufgewühltheit, die in ihr brodelte. „Dass wir einfach zurückkehren und nichts tun?“
„Nein“, sagte Aric mit einem geheimnisvollen Lächeln, „aber wenn ihr dieses Artefakt annehmt, wird euch der Fluss der Zeit verfolgen. Und er wird einen Preis von euch verlangen, den keiner von euch bereit ist zu zahlen.“
In diesem Moment vibrierte der Raum erneut. Ein goldenes Licht durchbrach die Decke und traf den Altar, als das Artefakt in Kais Händen zu leuchten begann. Lyra spürte, wie die Energie in ihr pulsierte, als würde sich ihre ganze Existenz mit der Zeit selbst verschmelzen. Die Zeit schien sich zu dehnen, während das Artefakt die gesamte Kammer durchflutete.
„Es ist zu spät“, flüsterte Aric, als er sich in den Schatten zurückzog.
„Was hast du getan?“, rief Kai, als sich eine goldene Kette um seinen Hals legte und sich dann zu einem Ring verwandelte, der sich unsichtbar um seinen Arm legte. „Es fühlt sich an, als wäre ich mit der Vergangenheit und der Zukunft verbunden.“
„Das Artefakt“, sagte Solan, „es verbindet uns mit den Strömen der Zeit. Es ist der Schlüssel, um in jede Ära zu reisen – und mit ihm können wir sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft beeinflussen.“
Lyra blickte auf das Artefakt in Kais Hand und spürte, wie es ihr eigenes Schicksal beeinflusste. „Dann müssen wir jetzt handeln. Die Zeit wartet nicht.“
Kaum hatte sie das gesagt, erschien eine weitere Silhouette – ein Mann, dessen Erscheinung ebenso eindrucksvoll wie bedrohlich war. „Khalon Drazar“, flüsterte Solan, als er die flimmernde Gestalt erkannte.
„Ihr habt das Artefakt in eure Hände genommen, aber ihr habt euch nie gefragt, warum es zu uns gekommen ist“, sagte Khalon mit einer Stimme, die wie das Knistern eines Feuers klang. „Das Artefakt ist nicht nur der Schlüssel zu Atlantis – es ist auch der Schlüssel zu den sieben Weltwundern.“
„Was meinst du damit?“, fragte Lyra, ihre Stimme fest, auch wenn sie das Prickeln der Magie spürte, die durch den Raum zog.
„Ihr werdet euch dem Rest der Welt stellen müssen“, sagte Khalon, als er sich vor ihnen materialisierte. „Wenn ihr nach Atlantis zurückkehren wollt, müsst ihr in die Antike reisen. In die alten Reiche. Zu den vergessenen Städten, die niemand mehr betreten kann. Ihr werdet Wahrheiten erfahren, die nie erzählt werden sollten.“
„Und wenn wir die Wahrheit erfahren wollen, müssen wir reisen“, sagte Solan und sah zu Lyra, die nun das goldene Armband fest um ihr Handgelenk trug. „Der Fluss der Zeit führt uns zu den Orten, die wir suchen. Und zu den Antworten, die wir brauchen.“
„Und zu den Gefahren, die uns erwarten“, fügte Kai hinzu, als er die Flammen in Khalons Augen bemerkte.
„Wenn wir Atlantis von seinem Fluch befreien wollen, müssen wir die Geheimnisse der sieben Säulen der Zeit aufdecken“, sagte Lyra, als die Gruppe in die Dunkelheit hinaustrat, in die unbekannte Zukunft.
„Bereitet euch vor“, sagte Khalon, und als er die Hand hob, begann der Raum zu brennen, der Boden unter ihren Füßen zu beben. „Die Zeit hat ihren Preis.“