Kapitel 18: Der Pfad der Erkenntnis
Lyra spürte das goldene Armband warm und pulsierend an ihrem Handgelenk. Die Gravuren, feine wie mit Licht gezeichnete Runen, bewegten sich in einer ungreifbaren Melodie, die tief in ihrer Seele widerhallte. Es war, als trüge sie die Essenz der Zeit selbst – flüchtig und allmächtig. König Kreors Worte klangen noch immer in ihrem Geist nach: „Ein wahrer Herrscher der Zeit versteht es, mit der Vergangenheit zu leben, ohne in ihr gefangen zu sein.“
Die massive Pyramidenstruktur um sie herum begann, sich in einem kaleidoskopischen Tanz aus Farben und Licht aufzulösen. Jeder einzelne Lichtstrahl schien die Substanz der Realität zu durchdringen und in funkelnde Splitter zu verwandeln. Ein Schwindelgefühl überkam die Gruppe, als eine unsichtbare Kraft sie emporriss und durch den Raum trug. Es war nicht nur ein Ortswechsel – es fühlte sich an, als würde die Zeit selbst auseinanderbrechen.
„Bereit?“ Solans tiefe Stimme klang gefasst, doch seine angespannten Schultern verrieten das Ringen mit dem Unbekannten.
„Bereit,“ erwiderte Kai mit fester Stimme, obwohl seine Hände leicht zitterten. Sein Blick suchte Lyras, und in einem stillen Moment gegenseitiger Bestärkung nickten sie einander zu.
Das goldene Armband leuchtete nun intensiver, ein lebendiges Feuerwerk aus Gold und Weiß. Lyras Kleidung, zuvor ein elfenbeinfarbenes Kleid aus feinstem Leinen, begann sich zu verändern. Ein fließendes Gewand aus kobaltblauem Stoff legte sich wie eine zweite Haut um sie, durchzogen von feinen, goldenen Fäden, die im Licht glitzerten wie Sternenstaub. An ihrer Taille funkelte ein silberner Gürtel, dessen filigrane Ketten bei jeder Bewegung leise klirrten.
„Wir sind bereit,“ sagte sie schließlich und machte den ersten Schritt in die gleißende Helligkeit, die vor ihnen aufstieg wie die aufgehende Sonne.
Die Welt um sie herum veränderte sich abrupt. Die flimmernden Farben wichen einer monumentalen Halle, deren schiere Größe ihnen den Atem raubte. Gewaltige Säulen aus poliertem Marmor ragten in den Himmel, ihre Oberflächen mit Reliefs verziert, die von vergangenen Zeitaltern erzählten. Die Mosaikböden unter ihren Füßen schimmerten in einem kaleidoskopischen Farbenspiel, jedes einzelne Steinchen ein sorgfältig geschliffener Edelstein.
„Wo sind wir?“ fragte Kai, dessen Stimme vor Staunen und Vorsicht leise war. Seine Hand wanderte automatisch zu dem Speer, der sich wie von selbst in seine neue Umgebung eingefügt hatte – eine perfekte Mischung aus alter persischer Kunstfertigkeit und moderner Präzision.
„Der Palast von Xerxes,“ sagte Solan mit ehrfürchtigem Flüstern. Sein Blick schweifte über die kunstvollen Wandmalereien, die Geschichten von Heldentaten und Tragödien erzählten. „Doch… etwas ist anders. Die Zeit hier… fühlt sich verschoben an.“
Lyra berührte das Armband und musterte die Gravuren, die wie winzige Lichtflüsse über das Metall tanzten. „Das Armband hat uns hierher geführt,“ sagte sie langsam. „Aber warum?“
Bevor jemand antworten konnte, trat eine Gestalt aus den Schatten. Ein Mann von imposanter Statur, sein Gesicht von einem dichten Bart umrahmt. Er trug eine goldene Rüstung, die mit Edelsteinen besetzt war, und sein Umhang, ein Meisterwerk aus purpurnem Brokat, schimmerte wie die untergehende Sonne. Seine Augen musterten die Gruppe mit einem Blick, der weder feindselig noch einladend war – nur wachsam.
„Ihr seid Fremde,“ sagte er, seine Stimme wie ein Donnerschlag, der in der Halle widerhallte. „Und Fremde sind im Palast von Xerxes nicht willkommen.“
Lyra trat vor, die Entschlossenheit in ihren Augen ungebrochen. „Wir kommen nicht als Feinde,“ erklärte sie ruhig. „Wir suchen nach Wissen, das über die Zeit bewahrt wurde.“
Hinter dem Mann trat eine Frau hervor, deren Erscheinung selbst die prachtvolle Halle in den Schatten stellte. Ihr Gewand aus purpurrotem Samt war mit goldenen Mustern durchzogen, die wie lebendige Flammen wirkten. Ihre Augen, tief wie ein unermesslicher Ozean, schienen die Geheimnisse der Ewigkeit zu bergen.
„Das Armband des Omnifaktums,“ sagte sie mit einer Stimme, die wie das Säuseln des Windes klang. „Ihr tragt es. Doch versteht ihr, was es bedeutet?“
„Wer seid ihr?“ fragte Kai, seine Neugier kaum zügelnd.
„Ich bin Artamira,“ antwortete sie. „Hüterin der Zeit. Eure Reise wird euch Prüfungen auferlegen, die weit über das hinausgehen, was ihr euch vorstellen könnt.“
Die Umgebung begann erneut zu flimmern, als Artamira die letzten Worte sprach. Ein leuchtender Wirbel ergriff die Gruppe, und vor ihren Augen erhob sich eine Stadt mit goldglänzenden Mauern und schimmernden Hieroglyphen – Atlantis.