Kapitel 16: Der Pfad der Prüfungen
Die Gruppe stand im Zentrum des Labyrinths, umhüllt von den düsteren, lebendig wirkenden Wänden, die sich anfühlten, als atmeten sie. Kaum hatten sie den steinernen Eingang hinter sich gelassen, als sich der Gang vor ihnen in unerforschte Tiefen öffnete. Der Geruch von feuchtem Moos und alter Steinstruktur mischte sich mit der salzigen Luft, die aus den verschlungenen Korridoren zu wehen schien. Es war, als ob die Wände selbst Geheimnisse flüsterten, doch in der gespenstischen Stille des Labyrinths hallte nur das knirschende Echo ihrer Schritte wider, das von den Felsen wie ein leiser Chor aufgefangen wurde.
„Das Labyrinth ist ein Test der Weisheit, der Entschlossenheit und der Reinheit des Herzens“, sagte Kalos mit ruhiger, fester Stimme, als er die Gruppe anführte. „Nicht jeder, der es betritt, wird den Ausgang finden. Ihr werdet euch nicht nur den Prüfungen der Zeit stellen müssen, sondern auch den Schatten eurer eigenen Vergangenheit.“ Seine Worte zogen sich wie ein unsichtbares Band durch die Dunkelheit und flossen in ihre Gedanken, bis sie fast mit der Stille der Gänge verschmolzen.
Lyra blickte hinab und bemerkte, dass sich ihre Kleidung verändert hatte. Das silberne Kleid, das sie vor nicht allzu langer Zeit getragen hatte, war verschwunden und durch ein schlichtes, jedoch majestätisches Gewand in einem tiefen, waldfarbenen Grün ersetzt worden. Es erinnerte an die verborgenen Wälder der Erde, die nur in der Stille des Verborgenen erblühten. Der Stoff fühlte sich weich an, fast wie ein Hauch vergessener Zeiten. Ihr Schwert war fort – an seiner Stelle hielt sie nun einen eleganten Dolch in der Hand, dessen Klinge im flimmernden Licht der Wände schimmerte. Die Veränderung war subtil, fast unmerklich, aber Lyra spürte in jeder Faser, dass diese Anpassungen sie auf die Prüfungen vorbereiteten, die noch bevorstanden. Das goldene Armband an ihrem Handgelenk, das sie stets getragen hatte, schimmerte nun in einem sanften, fast unmerklichen Licht, als ob es die Kraft all der Artefakte in sich aufnahm.
„Das Labyrinth wird euch nicht nur mit Rätseln herausfordern“, fügte Kalos hinzu, als er eine schmale Gasse entlangging, die in dichte Schatten gehüllt war. „Es wird euch auch mit den Essenzen der Vergangenheit konfrontieren – mit den Geistern von Atlantis, die nie ganz verschwunden sind.“ Eine flimmernde Erinnerung an längst vergangene Zeiten schien sich um ihre Schritte zu winden, ein fast greifbares Gefühl von Geschichte, die sich wie ein unsichtbarer Schleier über den Raum legte.
Kai griff an seinen Gürtel und zog eine kleine Armbrust hervor. Zu seiner Überraschung schien sie perfekt in seine Hand zu passen, fast so, als wäre sie eigens für diesen Moment geschaffen. Die schwere Ausrüstung, die er noch vor kurzer Zeit getragen hatte, war verschwunden, und an ihre Stelle trat diese präzise, leichte Waffe. Es war, als ob die Zeit selbst ihn umgeformt hatte, um ihn auf den Dialog mit dem Labyrinth vorzubereiten. „Das fühlt sich… seltsam an“, murmelte er, als sich auch die Rüstung an seinen Armen veränderte. Sie war nun leicht, beinahe federleicht, wie der Flügel eines Vogels, der sich zum Flug erhebt.
„Es ist die Art des Labyrinths, mit den Gaben der Zeit zu spielen“, antwortete Solan, der ebenfalls eine Veränderung an sich selbst spürte. Sein Gewand, das nun ein weites, tiefblaues Gewand war, erinnerte an die Roben eines alten Gelehrten. An seinem Hals hing ein silbernes Amulett, das nicht nur für Weisheit stand, sondern auch für eine Rolle, die noch nicht in ihrer vollen Tiefe erfasst werden konnte. „Wir sind mehr als nur Reisende“, sagte er. „Wir sind Zeugen einer neuen Ära.“
„Haltet euch gut zusammen“, sagte Kalos mit Nachdruck, als er sich zu ihnen umdrehte. „Das Labyrinth wird euch trennen, aber auch vereinen. Ihr werdet durch die Epochen der Zeit reisen und den größten Persönlichkeiten der Antike begegnen.“ Seine Worte flossen durch die Gänge, als wären sie ein unsichtbarer Strom, der ihren Weg vorzeichnete.
Sie schritten weiter, bis sie schließlich vor einer gewaltigen Tür standen, die tief in den Felsen eingelassen war. Über ihr prangten Inschriften in einer Sprache, die Lyra nur flüchtig kannte. Es war eine Sprache, die in den Tiefen der Zeit verloren gegangen war, ein Hinweis auf die mystische Verbindung von Himmel, Erde und den Kräften des Ozeans. Die Symbole, die die Tür zierten, schienen sich zu bewegen, als ob sie lebendig wären und die Geschichte bewahren, die noch erzählt werden musste.
„Das erste Rätsel“, murmelte Solan, als er einen Schritt näher trat, um die Symbole zu entschlüsseln. „Es heißt, der Schlüssel zu den Prüfungen ist der wahre Name des ersten Herrschers von Atlantis. Wenn ich mich richtig erinnere, war es…“
„Kreon“, unterbrach Kalos ihn leise. „Der legendäre König, der Atlantis mit den Kräften des Himmels und des Meeres vereinte. Er ist derjenige, dessen Erbe das Labyrinth schützt.“
Die Tür öffnete sich mit einem tiefen, dröhnenden Geräusch, als Solan das letzte Wort aussprach. Dahinter erstreckte sich ein glühender Tunnel, der ins Ungewisse führte. Doch bevor sie eintreten konnten, begannen sich die Wände der Höhle plötzlich zusammenzuziehen, und dunkle Silhouetten erschienen vor ihnen. Sie waren keine gewöhnlichen Schatten, sondern flimmernde Gestalten, die wie Erinnerungen aus der Vergangenheit selbst wirkten.
„Die Wächter“, flüsterte Kai, als er die Armbrust spannte. „Sie sind hier, um sicherzustellen, dass wir den richtigen Weg wählen.“
„Bleibt ruhig“, sagte Kalos, als er einen Schritt nach vorne trat. „Diese Wesen sind keine Feinde, sondern Geister vergangener Epochen, die das Labyrinth schützen.“
„Die Geister der Vergangenheit“, wiederholte Solan, „die uns auf die wahre Bedeutung der Zeit hinweisen werden. Doch wenn wir sie nicht verstehen, könnten sie uns zurückwerfen. Wir müssen die richtige Wahl treffen.“
Die Geister trugen maskierte Gesichter – einige mit den Zügen antiker Könige, andere mit denen von Kriegern und Philosophen. Einer trat hervor, und seine Stimme hallte wie ein leises Raunen durch den Raum.
„Ihr steht vor der Wahl“, sagte der Geist mit tiefer, melancholischer Stimme. „Welches Geheimnis der Zeit sucht ihr zu enträtseln? Und was seid ihr bereit, dafür zu opfern?“
„Wir suchen das Wissen, um die Chronoskala zu entschlüsseln“, sagte Lyra mit fester Stimme. „Wir suchen die Antworten, die uns helfen werden, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen.“
Der Geist nickte langsam. „Und doch“, sagte er, „nicht alles Wissen ist gesegnet. Einige Geheimnisse der Zeit sind gefährlicher, als ihr euch vorstellen könnt. Ihr müsst wissen, wann ihr aufhören solltet.“
„Wir sind bereit, den Preis zu zahlen“, antwortete Solan ruhig.
Ein Moment der Stille, dann öffnete sich der Tunnel erneut. Ein leises Klingen von Metall erfüllte die Luft, als ein neues Artefakt in Lyras Hand erschien – ein schwerer Anhänger, der wie ein Kreis aus flimmerndem Licht wirkte. Es war das Symbol des „Rings der Weisheit“ – ein Artefakt, das ihr erlauben würde, die tiefsten Geheimnisse der Zeit zu lesen.
„Dies ist unser Schlüssel“, sagte Lyra leise, als sie das Artefakt betrachtete. „Die Reise ist noch lange nicht zu Ende. Aber wir sind dem Labyrinth ein Stück näher gekommen.“
Sie setzten ihren Weg fort, und der Tunnel begann sich zu weiten. Vor ihnen tauchte ein neuer Ort auf, den Lyra nur aus den Geschichten kannte. Es war das alte Ägypten, zur Zeit des Pharaos Echnaton, einem der größten Könige, die jemals gelebt hatten. Hier würden sie mit einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Geschichte in Kontakt treten – Nefertiti, die legendäre Königin.
„Die Reise geht weiter“, murmelte Kai. „Und diesmal müssen wir die Vergangenheit nicht nur verstehen, sondern sie mit unseren eigenen Augen erleben.“
Die Gruppe trat weiter in die unbekannten Tiefen der Zeit und wusste, dass der wahre Test erst begonnen hatte. Die Prüfungen des Labyrinths waren nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.