Kapitel 128: Der Pfad der Schicksalsweber
Der Nebel begann sich zu lichten, während Lyra, Kai, Solan und ihre Gefährten auf einer Anhöhe standen, die einen weiten Blick über ein zerrüttetes Tal bot. Vor ihnen erstreckten sich die rauchenden Ruinen einer einst glorreichen Stadt – London im Jahr 1666, verzehrt von den Flammen des großen Brandes. Die Luft war erfüllt vom Geruch verbrannten Holzes, und die Schreie der Bewohner hallten durch die Straßen.
„Die Dunkelheit hat hier ein weiteres Kapitel geschrieben“, murmelte Solan, während er über die verkohlten Fassaden der Stadt hinwegblickte. „Aber seht ihr das?“ Er deutete auf die Ruinen der alten St. Paul’s Cathedral, wo ein Schatten sich wie eine zähe Masse aus den Flammen erhob.
„Mephos’ Spuren“, sagte Lyra entschlossen. „Er ist nicht nur ein Puppenspieler der Kriege. Er hat sich die Tragödien der Menschheit zunutze gemacht, um seine Macht zu stärken.“
Kai griff instinktiv nach seiner Klinge. „Wir können diesen Ort nicht verlassen, ohne das Unheil zu bannen. Doch der Nebel ruft – wir haben noch viele Epochen vor uns.“
Die Schatten der Zeit
Sie fanden sich erneut im Strudel der Zeit wieder, nur um in einer dunklen, feuchten Gasse des mittelalterlichen Edinburgh zu landen. Über ihnen ragte die mächtige Silhouette des Edinburgh Castle, und die Straßen waren erfüllt von den Stimmen einer aufgebrachten Menge. Es war das Jahr 1563, und die Stadt stand unter der Herrschaft von Maria Stuart, der Königin von Schottland. Doch die Hexenprozesse, die ihren Hof heimsuchten, erzählten eine dunklere Geschichte.
„Es sind nicht nur Kriege, die Mephos nutzt“, sagte Solan. „Auch die Ängste und das Misstrauen der Menschen dienen ihm.“
Lyra schloss die Augen, als sie die Kälte der Umgebung auf sich wirken ließ. „Diese Hexenverfolgungen – sie sind mehr als ein Ausdruck menschlicher Angst. Sie sind eine Methode, um die Zeit selbst zu manipulieren. Wir müssen vorsichtig sein.“
Ihre Nachforschungen führten sie in die Kellergewölbe der Stadt, wo sie auf einen Geheimbund stießen, der sich selbst die Hüter der Chroniken nannte. Angeführt von einem Mann namens Alaric, einem Alchemisten mit langem, silbrigem Haar und Augen, die von der Zeit gezeichnet waren, enthüllten die Hüter, dass sie schon lange versuchten, die Eingriffe von Mephos zu bekämpfen.
„Ihr seid die ersten, die die Schatten der Zeit durchschritten haben“, sagte Alaric, während er ihnen einen alten, zerfallenen Kodex zeigte. „Doch die wahre Herausforderung liegt nicht in den Schlachten, sondern in der Wahrheit, die sich in ihnen verbirgt. Ihr werdet die Zeit selbst neu weben müssen.“
In den Hallen von Versailles
Die nächste Reise führte sie in das Jahr 1789, inmitten der Wirren der Französischen Revolution. Die Hallen des Palastes von Versailles strahlten noch immer verschwenderischen Glanz aus, doch die finsteren Blicke der hungernden Massen vor den Toren erzählten von einem bevorstehenden Umsturz.
„Seht euch die Gesichter an“, sagte Kai, während er durch die Menge schritt. „Sie glauben, für Freiheit zu kämpfen. Aber es ist eine Freiheit, die in Dunkelheit endet, wenn wir nicht eingreifen.“
In den prächtigen Sälen begegneten sie Ludwig XVI. und Marie Antoinette – zwei Figuren, die zwischen ihren Pflichten und ihren Ängsten zerrissen waren. Solan sprach lange mit Ludwig, um herauszufinden, ob Mephos auch hier seine Finger im Spiel hatte. Die Königin war schweigsam, doch Lyra bemerkte ein geheimes Symbol an ihrem Handgelenk – ein Zeichen, das sie bereits in Edinburgh gesehen hatten. Es war ein Beweis dafür, dass der Einfluss der dunklen Mächte tief in die Königshöfe Europas reichte.
„Das ist nicht mehr nur Geschichte“, flüsterte Lyra. „Das ist ein Spiel mit der Zukunft.“
Napoleons Aufstieg und Fall
Die Zeit verging wie ein Wimpernschlag, und bald standen sie an der Seite von Napoleons Truppen, als die Kanonen von Waterloo donnernd die Stille zerrissen. Solan beobachtete den Mann, der mit eiserner Willenskraft die Welt verändern wollte, und sah in ihm mehr als nur einen Kriegsherrn.
„Napoleon ist nicht unser Feind“, sagte er. „Er ist eine Schachfigur – und vielleicht eine von uns.“
Als die Schlacht tobte, entdeckten sie eine weitere Manifestation von Mephos’ Macht: eine Statue inmitten des Schlachtfeldes, die mit jedem Kanonenschuss dunkler zu leuchten begann. „Das ist ein Knotenpunkt der Zeit“, erkannte Solan. „Wenn wir sie zerstören, könnten wir diesen Teil der Geschichte heilen.“
Mit vereinten Kräften griffen sie an, während der Sturm der Schlacht um sie herum tobte. Als Kai schließlich die Statue mit einem mächtigen Schlag zertrümmerte, löste sich der Schatten in einem blendenden Licht auf, und für einen Moment war es, als würde die Zeit selbst wieder in Ordnung gebracht.
Die Wellen des Schicksals
Ihre Reisen führten sie weiter in die Tiefen der Pestjahre in Europa, durch die Straßen von Venedig, wo die Kanäle den Tod brachten, und in das antike Griechenland, wo sie Zeuge der Siege Alexanders des Großen wurden. Sie standen an den Ufern von Salamis, wo die Schiffe der Perser und Griechen aufeinanderprallten, und kämpften in den Schatten von Troja, wo die Götter selbst ihren Willen über die Sterblichen verhängten.
Doch jedes Mal, wenn sie einen Schatten von Mephos’ Macht zerstörten, schien eine neue Katastrophe aufzutauchen: Tsunamis, die ganze Städte verschlangen, und Stürme, die selbst die mächtigsten Heere in die Knie zwangen.
Ein neuer Weg
Nach unzähligen Schlachten fanden sie sich schließlich in einem kleinen Dorf am Rand einer Schlucht wieder, wo die Sterne über ihnen heller leuchteten als je zuvor. Es war ein Ort, der fern von allen historischen Ereignissen zu sein schien, doch die Ruhe war trügerisch.
„Wir haben uns in den Epochen verloren“, sagte Lyra nachdenklich, während sie in die Nacht blickte. „Aber ich glaube, wir kommen der Quelle näher.“
„Das ist der Anfang vom Ende“, fügte Kai hinzu. „Wir haben so viele Schlachten gesehen, so viele Zeitalter berührt. Aber der wahre Kampf wartet noch auf uns.“
Solan nickte. „Und wenn wir versagen, wird die Zeit nie wieder dieselbe sein.“
Die Gefährten bereiteten sich darauf vor, die nächste Epoche zu betreten, ohne zu wissen, was sie dort erwartete. Doch eines war sicher: Die Schatten der Epochen hatten sie verändert, und mit jedem Schritt kamen sie dem Ende ihres Abenteuers näher – oder dem endgültigen Untergang.