Kapitel 120: Die Flut der Geschichte

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Lesedauer 4 Minuten

Kapitel 120: Die Flut der Geschichte

Der Nebel hatte sich wieder zu einer undurchdringlichen Wand aus grauer, schwerer Feuchtigkeit verdichtet. Lyra, Kai und Solan standen inmitten des dichten Schleiers und fühlten sich gleichzeitig wie von der Außenwelt abgeschnitten und doch mehr mit ihr verbunden als je zuvor. Die Erinnerung an die dunklen Tage Londons, durch die sie soeben gewandert waren, schwand schnell, als sie sich nun in einer neuen, ebenso düsteren Zeit wiederfanden.

„Es ist als ob der Nebel uns immer weiter zerrt, immer tiefer in die Zeit“, murmelte Kai, der die Schärfe des Luftzuges spürte, der sich plötzlich durch die Gassen einer fremden Stadt schnitt.

„Das ist der Fluss der Geschichte“, sagte Solan mit einer Stimme, die die Schwere der Situation widerspiegelte. „Er zieht uns in immer tiefere Epochen, in denen die Spuren der großen Kriege und ihrer Götter noch frische Narben in der Welt hinterlassen haben.“

Die drei standen auf einem weiten, staubigen Marktplatz, der von grob verzierten Steinmauern gesäumt war. Die Architektur war römisch und dennoch von einer neueren Hand gezeichnet – eine Mischung, die die Verschmelzung der alten und neuen Welt widerspiegelte. Die Kleidung der Leute, die über den Platz eilten, war prunkvoll, aber zerrissen, als hätten Kriege und politische Umwälzungen ihre Spuren hinterlassen. Der Geruch von Blut und verbranntem Holz lag in der Luft.

„Wir sind in der Zeit der Französischen Revolution“, sagte Solan, der mit jeder dieser Veränderungen mehr vertraut zu werden schien. „Die Straßen gehören den revolutionären Kräften, und die Guillotine steht bereit, um diejenigen zu bestrafen, die den neuen Willen des Volkes herausfordern.“

„Wir müssen uns beeilen“, sagte Lyra mit Entschlossenheit. „Wenn wir hier verweilen, werden wir von der Geschichte verschlungen. Wir müssen den Ursprung des Nebels finden, bevor er uns noch weiter in die Vergangenheit zieht.“

Om 25

Die Straßen von Paris waren überfüllt mit Menschen, die in Aufruhr versuchten, die Veränderungen zu begreifen, die ihre Welt durchzogen. Auf den Wänden der Gebäude prangten Schriften, die „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ verkündeten, und doch war es eine Freiheit, die von Gewalt und Aufständen begleitet wurde. Im Hintergrund erhob sich das düstere Bild des Tuilerienpalasts, ein Symbol für die Macht der Monarchie, die jetzt unter dem Druck der Revolution zitterte.

„Sieht aus, als ob wir in den Tag der Hinrichtung von Louis XVI. geraten sind“, bemerkte Kai, als sie an einer Menschenmenge vorbeigingen, die sich vor einem riesigen Holzgerüst sammelte, das als Schafott diente. Die Revolution war in vollem Gange, und das Volk hatte seine Wut und seinen Hass gegen die alte Ordnung auf den Straßen entfesselt.

„Mephos‘ Einfluss ist hier, in der Masse der aufgebrachten Menschen“, sagte Solan. „Er nutzt das Chaos dieser Revolution, um seine Macht zu stärken. Diese dunklen Zeiten sind der Nährboden, den er braucht, um sich weiter zu verankern.“

„Wir müssen weitergehen“, sagte Lyra. „Wir haben das schon einmal erlebt, aber jetzt ist es anders. Etwas hat sich verändert, und wir müssen wissen, was.“

Sie gingen durch die Straßen, vorbei an verzweifelten Menschen, die sich in den Schatten der Revolution versteckten. Ihr Weg führte sie zu einem imposanten Gebäude, das schon beim letzten Mal, als sie hier gewesen waren, einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte: die Kathedrale Notre-Dame. Doch als sie sich vor den steilen, gotischen Mauern des Bauwerks standen, spürten sie, dass sich etwas Unheimliches in der Luft veränderte.

„Der Ort ist der gleiche, aber die Zeit hat ihn verwandelt“, sagte Kai, als er in den ehrfürchtigen Blick auf die Kathedrale fiel. „Er war einst ein Symbol der Hoffnung, aber jetzt ist er ein Mahnmal für den Verfall der Welt.“

„Das ist Mephos‘ Einfluss“, sagte Solan leise. „Er hat die Religion und die Götter aus dieser Welt vertrieben. Er speist sich von der Zerstörung der alten Werte, von den Gebeten, die hier einst gesprochen wurden und nun verfallen sind.“

Sie gingen hinein, und der Geruch von fauligem Stein und feuchtem Marmor umhüllte sie. Der Altar, an dem sie schon einmal gekämpft hatten, war leer. Stattdessen war der Raum von einem düsteren, schwarzen Nebel durchzogen. Lyra konnte die Präsenz von Mephos förmlich spüren, der in den Ecken der Kathedrale lauerte und seine Macht aus der Angst und dem Zorn der Menschen zog.

„Er ist hier“, sagte Lyra mit einer kalten Entschlossenheit. „Aber diesmal wird er uns nicht unvorbereitet treffen.“

Kaum hatte sie das gesagt, ertönte eine kalte, verhallende Stimme aus den Schatten. „Ihr glaubt immer noch, ihr könnt mich besiegen? Die Zeit gehört mir, und ihr seid nur Marionetten in meinem Spiel.“

Die Nebel verdichteten sich, und Mephos trat aus den dunklen Ecken hervor, seine Augen glühten in einem unheimlichen Blau. „Ihr werdet niemals die Kontrolle über die Geschichte zurückgewinnen“, fuhr er fort, „denn sie ist von Natur aus chaotisch und zerbrechlich. Ihr seid nur Reisende in einem endlosen Strudel.“

Doch Lyra spürte die Veränderung, die in der Luft lag. Die Erinnerungen an die vielen Schlachten, die sie und ihre Gefährten in verschiedenen Zeiten geschlagen hatten, flossen zusammen, und mit jedem Schritt, den sie machten, war die Entschlossenheit stärker.

„Die Geschichte ist nicht dein Spielzeug, Mephos“, sagte sie, als sie sich auf den bevorstehenden Kampf vorbereitete. „Die Menschen haben die Macht, sich zu verändern. Ihre Entschlossenheit, ihre Liebe und ihr Mut sind stärker als deine Dunkelheit. Und diesmal werden wir dich aufhalten.“

Der Kampf begann erneut, doch diesmal war er anders. Die Zeit selbst schien sich zu dehnen, während die Realität um sie herum zu einem wilden Strudel aus vergangenen und zukünftigen Epochen wurde. Die Kathedrale, die sie einst als einen Ort des Glaubens gekannt hatten, wurde zu einem Schlachtfeld der Zeiten. Der Nebel wirbelte um sie herum, doch diesmal waren sie vorbereitet. Sie hatten schon viele Male gegen Mephos gekämpft und die Macht der Geschichte selbst genutzt, um sich zu verteidigen.

Doch es war nicht nur der Kampf gegen Mephos, der sie beschäftigte. Es war die Erkenntnis, dass sie immer wieder durch die Zeiten gereist waren, immer wieder an Orte zurückgekehrt waren, die sich verändert hatten. In der Geschichte gab es keine feste Linie, nur immer wieder neue Kapitel, die geschrieben wurden.

Und so, während sie gegen Mephos kämpften und versuchten, ihn zu besiegen, wussten sie, dass sie irgendwann in einer anderen Zeit landen würden – und dass die Geschichte, so unaufhaltsam sie auch war, nie wirklich enden würde.

Doch sie würden nie aufhören, für die Freiheit der Geschichte zu kämpfen, bis der Nebel schließlich verschwunden war und die Zeiten wieder in Ordnung gebracht wurden.

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