Kapitel 119: Der Strom der Epochen

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Kapitel 119: Der Strom der Epochen

Die Luft um sie war feucht, und der Nebel hatte sich erneut verfestigt. Doch diesmal war er dichter, als sie ihn je erlebt hatten. Lyra spürte, wie ihre Sinne sich schärften, als sie mit Kai und Solan durch den dunklen Wald von Ardennen gingen. Der Tempel von Ysmir war nur ein erster Schritt auf einem langen, gefährlichen Weg. Der Nebel hatte sich verändert, und mit ihm schien die Zeit selbst sich zu biegen, zu dehnen und zu zerreißen.

„Es fühlt sich an, als ob wir in einem Strudel gefangen sind“, sagte Kai, während er die Hand an sein Schwert legte, als er eine Bewegung hinter einem Baum hörte.

„Der Nebel ist nicht nur eine Falle für die Sinne, sondern auch für die Zeit“, erklärte Solan, der tief in den Schriften der alten Welt und der Götter begraben war. „Er verschlingt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und Zukunft. Was wir sehen, ist ein Sog, der uns in Epochen zieht, in die wir nie hätten kommen sollen.“

„Und dennoch müssen wir weiter“, sagte Lyra entschlossen. „Solange wir den Ursprung des Nebels nicht finden, werden wir niemals wirklich frei sein. Mephos kann uns nicht einfach der Zeit überlassen. Er will uns in diesem Strudel gefangen halten, aber wir haben den Vorteil, dass wir schon wissen, wie wir die Geschichte verändern können.“

Der Nebel schien auf einmal zu verdichten, und mit einem plötzlichen Ruck fanden sie sich an einem völlig anderen Ort wieder. Die Gassen waren enger, die Häuser dunkler und die Straßen vom Staub vergangener Kriege überzogen. Es war der Beginn des 14. Jahrhunderts, eine Zeit, die sowohl von Kriegen als auch von der Pest geprägt war. Der Himmel war von düsteren Wolken verhangen, und der Wind brachte den Geruch von verbranntem Holz und fauligem Fleisch mit sich. Die Stadt, in der sie sich nun befanden, war London – aber nicht das London, das sie kannten.

„Ich kenne diesen Ort“, sagte Solan nachdenklich, als er auf die umherziehenden Menschen blickte. „Wir sind hier schon einmal gewesen, aber der Ort hat sich verändert. Es ist der Londoner Stadtteil, aber alles scheint… verdorben.“

Om 25

„Die Zeit hat sich weitergedreht“, sagte Kai, während er den Blick auf den leeren Marktplatz richtete, auf dem Überreste von brennenden Feuern lagen. „Es ist die Zeit der Pest, der großen Seuche. London wurde von den Schatten des Todes heimgesucht. Doch es gibt auch andere Schatten – die Götter, die in den Ruinen der Stadt ihre eigenen Spielchen treiben.“

„Und Mephos?“, fragte Lyra, während sie ihren Blick durch die Straßen schweifen ließ. „Wo ist er?“

„Er ist immer da, wo das Chaos am größten ist“, antwortete Solan. „Er hat eine starke Präsenz in dieser Zeit, und seine Macht verfestigt sich in den Ängsten der Menschen.“

Sie gingen weiter, und bald standen sie vor einem imposanten Gebäude – einem der ältesten Kirchen Londons, die von der großen Pest verschont geblieben war. Doch in den Schatten, die sich um das Gebäude zogen, lag eine unheimliche Stille. Niemand wagte es, sich der Kirche zu nähern. Die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, um den tödlichen Atem der Krankheit zu entkommen. Aber etwas anderes war hier – etwas Dunkles und Uraltes.

„Mephos‘ Einfluss“, murmelte Solan. „Er nutzt die Angst und die Krankheit, um seinen Griff auf diese Welt zu festigen. Wir müssen das Zentrum seines Plans finden, und ich fürchte, wir haben nur wenig Zeit.“

Die Gruppe betrat die Kirche, und der Geruch von fauligem Holz und nassem Stein war unerträglich. In der Mitte des Raumes lag ein alter Altar, der von dunklen Runen und Symbolen bedeckt war, die in das steinerne Mauerwerk eingeschnitten waren. In der Luft lag ein Flimmern, das Lyra das Gefühl gab, als würde sie von einer unsichtbaren Hand berührt.

„Der Altar ist der Schlüssel“, sagte Solan. „Wenn wir ihn zerstören, können wir Mephos‘ Einfluss hier brechen.“

Doch bevor sie handeln konnten, ertönte eine tiefe, verhallende Stimme aus den Schatten.

„Ihr denkt, ihr könnt mich besiegen?“ Mephos trat aus den dunklen Ecken der Kirche, und ein kalter Schauer lief den Gefährten über den Rücken. „Die Zeit gehört mir. Ich bin die Dunkelheit, die den Menschen den Atem nimmt, die Erinnerung an ihre eigenen Sünden. Ihr könnt mir nicht entkommen.“

„Nicht, solange die Geschichte lebt“, sagte Lyra, während sie sich auf die bevorstehende Konfrontation vorbereitete. „Und du wirst niemals die Kontrolle über sie haben.“

Der Kampf begann erneut, und dieser war anders als alle, die sie bisher geführt hatten. Der Altar verwandelte sich vor ihren Augen in eine Plattform, die von magischer Energie durchzogen war, und die Zeit selbst schien zu zerreißen. Doch inmitten des Chaos spürte Lyra, dass sie nicht allein war. Die Geister der Vergangenheit, von den großen Helden und Königen bis hin zu den einfachen Soldaten und Bauern, die für ihre Freiheit gekämpft hatten, standen an ihrer Seite. Ihre Stimmen, ihre Kämpfe und ihre Entschlossenheit hallten durch die Wände der Kirche.

„Wir müssen weiter“, sagte Kai mit einer Stimme voller Entschlossenheit, als er Mephos von der Seite angriff. „Die Geschichte lebt weiter. Und du wirst sie nicht verschlingen.“

Mit einem letzten, verzweifelten Stoß gelang es Lyra, den Altar zu zerstören, und der Nebel begann zu zerreißen. Doch bevor sie den endgültigen Schlag landen konnten, spürten sie eine weitere Veränderung in der Zeit. Die Umgebung war nicht mehr das düstere London der Pest. Stattdessen waren sie nun in einer völlig anderen Ära – dem Europa des 16. Jahrhunderts, eine Zeit der Kriege, der Entdeckungen und der ersten Geheimbünde.

„Was ist passiert?“, fragte Lyra, als sie sich die neue Welt ansah, die sich vor ihr ausbreitete. „Wo sind wir?“

„Wir sind in der Zeit von Elizabeth I.,“ antwortete Solan. „Eine Zeit der großen Umwälzungen. Das Land steht am Rande des Aufstands, und die Macht der Königin wird herausgefordert. Aber auch hier werden die Götter und Mephos ihre Spiele spielen.“

Und so begannen sie ihre Reise erneut – in einem Zeitalter, das von den Kriegen zwischen England, Spanien und Schottland, von den Geheimnissen der Alchemisten und den ersten Entdeckungen der neuen Welt geprägt war. Der Nebel hatte sie in eine neue Epoche geführt, und während sie sich durch diese neue Zeit kämpften, wussten sie, dass sie erneut gegen die Dunkelheit und die Macht von Mephos und seinen Mitstreitern ankämpfen mussten.

Doch diesmal waren sie nicht allein. Sie hatten neue Verbündete gefunden, darunter berühmte Historiker und Entdecker der Zeit, wie den großen Sir Francis Drake, und die Schatten der alten Götter, die in den Geheimbünden der Zeit ihre Fäden zogen. Und inmitten der Kriege und Intrigen der Zeit wuchs ihre Entschlossenheit, die Geschichte zurückzuerobern und den Nebel endgültig zu besiegen.

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