Kapitel 107: Der Tanz der Zeit

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Lesedauer 5 Minuten

Kapitel 107: Der Tanz der Zeit

Der Nebel, der die Stadt Flandern umhüllte, schien sich jetzt noch dichter und schwerer zu machen, als die Zeit selbst ihre Schleier dichter zog. Kai, Lyra, Solan und die anderen Gefährten standen vor den gewaltigen Mauern einer Stadt, die sie schon einmal besucht hatten. Doch der Geruch der Verwesung, der sich wie ein düsterer Vorbote über den Marktplatz legte, war neu. In der Ferne konnten sie die verwitterten Silhouetten der Spitäler und die leeren Fenster der hohen Häuser erkennen, die vor Jahren noch mit Leben und Handel erfüllt gewesen waren. Doch heute war dieser Ort ein monumentales Zeugnis von Schmerz und Verlust.

„Wir sind wieder hier“, sagte Solan, als er die Stadtmauern musterte. „Aber dieses Mal fühlt es sich anders an. Alles ist von Dunkelheit überzogen. Die Pest hat die Stadt bis ins Mark zerstört, doch ich spüre, dass Mephos’ Hand hier noch fester greift als zuvor.“

Kai blickte auf die verwüsteten Straßen, die von der fahl erleuchteten Sonne nur matt angestrahlt wurden. Der Himmel war trüb, und der Klang von Hufen, die auf dem nassen Pflaster schlugen, war von einer unheimlichen Stille umhüllt. „Die Zeit hat sich geändert“, murmelte er. „Aber warum? Warum spüre ich diesen Schatten, als wäre er nicht nur in der Luft, sondern auch in den Steinen selbst?“

„Weil wir hier sind, weil wir das Wiedersehen mit der Geschichte suchen“, antwortete Lyra, ihre Stimme von einer tiefen Erkenntnis durchzogen. Sie zog ihren Umhang enger um sich, und der goldene Armband, der wie ein stiller Zeuge ihrer Reisen glänzte, reflektierte das blasse Licht der Dämmerung. „Wir sind Teil von etwas Größerem. Etwas, das sich immer wieder entfaltet.“

Seraphine, die mit einem entschlossenen Blick die Straßen absuchte, hob den Kopf. „Es gibt Orte in der Geschichte, die sich nie verändern, weil sie den Kern der Zeit widerspiegeln. Wir waren hier schon einmal, aber der Schleier der Dunkelheit hat etwas verdrängt, das wir damals nicht verstehen konnten.“

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„Die Dunkelheit hat sich vertieft“, fügte Sira hinzu, als sie einen Blick auf die hängenden Wimpel warf, die wie trübe Schatten von den hohen Zinnen wehten. „Mephos hat die Seelen dieser Stadt gefangen genommen und sie zu einer Marionette seiner finsteren Herrschaft gemacht. Doch wir können nicht einfach wegsehen. Wir müssen an die Quelle.“

„Dann geht mit mir“, sagte Solan mit einem entschlossenen Nicken und drehte sich in Richtung der mächtigen Bibliothek, die wie ein alter Tempel aus Stein in der Ferne aufragte. „In diesen Mauern liegt die Antwort. Der Schlüssel zu Mephos’ Macht liegt verborgen in der Geschichte.“

Die Gruppe machte sich auf den Weg, als die Dunkelheit um sie herum dichter und unheilvoller wurde. Der Klang der Dämmerung war fast greifbar, die Luft schwer von Fäulnis und Verzweiflung. Doch trotz allem, was sie bereits erlebt hatten, trugen sie die Hoffnung, dass sie Mephos besiegen und den Zyklus der Dunkelheit durchbrechen könnten.

Der Weg zur Bibliothek der verlorenen Geschichten

Als sie die gewaltigen Stufen der Bibliothek erklommen, spürten sie, dass sie sich nicht nur auf einem geographischen Weg bewegten, sondern auf einem, der tief in die Vergangenheit reichte. Jeder Schritt schien die Zeit selbst zu beugen, und als sie die Tür zu der alten Bibliothek öffneten, umfing sie der staubige Geruch von alten Pergamenten und vergilbtem Leder.

„Es ist hier, irgendwo in diesen alten Regalen“, sagte Solan, der mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entschlossenheit vor den riesigen Bücherwänden stand. „Das Wissen, das uns zum Ursprung von Mephos führt, wurde hier niedergeschrieben. Wir müssen nur das richtige Fragment finden.“

Lyra, deren Hand das Armband an ihrem Handgelenk berührte, spürte die warme Energie, die von diesem Artefakt ausging. Es war mehr als nur ein Schmuckstück; es war ein Teil des Rätsels, das die Zeit verband. Sie griff nach einem der älteren Schriften und begann, die Seiten mit einer Mischung aus Vorsicht und Entschlossenheit zu blättern. „Es gibt Hinweise“, sagte sie schließlich, als sie eine besonders alte und vergilbte Seite entdeckte. „Der Ursprung von Mephos… er wird als ein Wesen beschrieben, das durch die Zeit wandert, ein Dämon der Veränderung, der die Geschichten umformt.“

„Aber wie können wir ihn stoppen?“, fragte Kai, der das Schwert aus der Scheide zog und es in die Hand nahm. „Was können wir tun, um die Vergangenheit zu verändern, ohne die Zukunft zu gefährden?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit“, sagte Seraphine mit einem düsteren Blick. „Wir müssen den Moment finden, in dem Mephos das erste Mal in die Welt trat, und ihn dort stoppen. Doch das bedeutet, dass wir tiefer in die Geschichte eintauchen müssen, weiter zurück als je zuvor.“

Die Reise zu den Kriegen der Epochen

Die Zeit verschob sich erneut, und der Nebel trat zurück, als die Gefährten in das Europa des 15. Jahrhunderts reisten. Es war die Zeit der großen Kriege, der französischen Aufstände, des Hundertjährigen Krieges, und der Dämmerung des Mittelalters. Die gewaltigen Festungen, die die Landschaft zierten, waren Zeugen unzähliger Schlachten, und die Armeen, die auf den Schlachtfeldern standen, hatten das Land in ein permanentes Kriegsgebiet verwandelt.

„Azincourt“, murmelte Solan, als die Gruppe die weite Ebene erreichte, auf der sich das Schlachtfeld der berühmten Schlacht entfaltete. „Hier haben sich die englischen und französischen Armeen ein gewaltiges Blutbad geliefert. Und Mephos war dabei, um den Ausgang dieser Schlacht zu beeinflussen.“

Kai sah sich um. Der Boden war aufgewühlt, von den Hufen der Pferde zertrampelt und durchzogen von tiefen Gräben. Die Luft war schwer vom Gestank des Schweißes und des Todes. „Er hat es also geschafft“, sagte er mit finsterem Blick. „Er hat uns hierher geführt, um zu verhindern, dass der Verlauf der Geschichte korrigiert wird.“

„Aber wir sind hier, um das zu verhindern“, sagte Lyra fest und griff nach dem Armband an ihrem Arm. „Wir haben die Macht, den Verlauf der Geschichte zu ändern. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir Mephos’ Einfluss zerbrechen.“

„Lasst uns kämpfen, wie es niemals zuvor getan wurde“, sagte Seraphine, ihre Hand fest um die Waffe gelegt. „Für die Freiheit der Epochen.“

Und so begannen sie, inmitten der Krieger und der entbrannten Schlachten, zu kämpfen. Doch der wahre Krieg fand nicht nur auf den Feldern statt. Es war der Kampf gegen Mephos, der sie immer wieder in die düstersten Ecken der Geschichte führte, immer tiefer in den Fluss der Zeit.

Doch mit jedem Schritt kamen sie ihrem Ziel näher. Die Dunkelheit konnte nicht für immer herrschen. Die Geschichte war mehr als nur eine Reihe von Ereignissen – sie war ein lebendiger Organismus, und sie waren die, die ihn heilen konnten.

Der Weg durch die Französische Revolution

Nachdem sie die großen Kriege des Mittelalters hinter sich gelassen hatten, traten sie in das düstere Paris der Französischen Revolution ein. Der Himmel war von schwarzem Rauch durchzogen, als das Volk gegen die Monarchie aufbegehrte. Der Ruf nach Freiheit hallte durch die Straßen, doch dieser Aufstand war nur eine weitere Facette der Dunkelheit, die Mephos beherrschte.

„Paris“, sagte Lyra mit einem nachdenklichen Blick. „Die Revolution hat das Gleichgewicht der Welt verändert, aber nicht auf die Weise, wie es hätte sein sollen. Mephos’ Schatten liegt über allem.“

Sie zogen durch die engen Gassen, vorbei an den brennenden Barrikaden und den ergriffenen Monarchen. Sie wussten, dass der wahre Feind nicht nur in den Straßen kämpfte, sondern auch im Inneren des Volkes – in den Ängsten, in den Sehnsüchten, die der Dämon befeuerte.

„Es ist der Moment, in dem wir entscheiden müssen“, sagte Solan, als er die Bücher und Schriften der Revolution durchblätterte. „Der wahre Kampf ist nicht gegen die Menschen, sondern gegen die Dunkelheit, die sie beherrscht.“

So zog die Gruppe weiter durch die Epochen, ein Sturm der Veränderung, der die Geschichte neu schrieb und Mephos zu Fall brachte. Die Reise war weit von ihrem Ende entfernt, doch sie hatten ihre Entschlossenheit gefunden. Sie waren die Wächter der Zeit, und ihre Schlachten würden das Schicksal der Epochen entscheiden.

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