Kapitel 100: Die Schatten der Zeit
Die Zeit schimmerte erneut in ihrer schillernden, verworrenen Form, als sich die Gefährten aneinanderklammerten und durch das unsichtbare Tor zwischen den Epochen hindurchgerissen wurden. Lyra spürte, wie ihr Armband – nun ein filigran gearbeitetes Armband aus dunklem, glänzendem Metall – sich warm an ihrem Handgelenk anpasste. In dieser neuen Ära war es kaum mehr als ein unauffälliger Schmuck, doch es war ihr ständiger Begleiter auf dieser Reise durch die Zeitalter.
„Wo sind wir diesmal?“ fragte Kai, während er die weiten, von Nebel durchzogenen Landschaften betrachtete.
„In Schottland, aber nicht in der gleichen Zeit wie beim letzten Mal“, sagte Solan, der Historiker. Er zog eine alte Karte aus seiner Tasche und deutete auf den schmalen Landstrich, der vor ihnen lag. „Die politischen Strukturen haben sich verändert, und auch die Landschaft ist anders. Es ist eine Zeit der Unruhe, der Kriege und der dunklen Mächte.“
Sie fanden sich in einem schottischen Dorf wieder, das von düsteren Wolken und Nebelschwaden umhüllt war. Die Häuser waren aus grobem Stein gebaut, mit Dächern, die wie zerfetzte Schatten in den Himmel ragten. Der Geruch von nassem Gras und brennendem Holz lag in der Luft, und der kühle Wind trug das dröhnende Rauschen von nahen Schlachten heran.
„Es fühlt sich an, als würde die Geschichte in dieser Region immer wieder denselben Albtraum träumen“, sagte Lyra leise. „Ich war schon hier, aber damals war es anders. Die Luft war klarer, der Boden grüner… und die Kriege nicht so… verflochten.“
Myria Dunkelmond, die Herrin der Nebel, hob ihren Stab, und der Nebel um sie herum verdichtete sich, als sie ihre Magie entfesselte. „Die Dunkelheit hat sich hier festgesetzt. Es gibt Kräfte, die diese Zeit manipulieren und die Welt in einen ständigen Zustand des Krieges versetzen wollen.“
„Ich spüre eine Präsenz“, sagte Sira Valeris, die sich in einen Falken verwandelt hatte und nun hoch über den Dächern schwebte. „Es gibt mehr als nur Menschen, die hier kämpfen. Etwas anderes zieht an den Fäden dieser Kriege.“
„Wen meint ihr?“ fragte Kai, der seine geschwungene Klinge immer griffbereit hielt.
„Ein alter Feind“, antwortete Seraphine Veyra, die Visionärin, mit einem ernsten Blick. „Ich sehe das Bild eines Kriegers in schwarzer Rüstung. Aber es ist nicht nur der Ritter von früher. Es gibt noch jemanden im Hintergrund – eine noch finsterere Macht.“
„Mephos“, murmelte Selena Arinthal, die Lichtweberin, während sie ihren Blick auf die nahen Schlachten richtete. „Er ist wieder dabei, er zieht seine Fäden. Aber warum?“
„Er hat sich verändert“, sagte Solan, als er tiefer in seinen Erinnerungen gräbt. „Wir sind nicht nur Zeugen dieser Kriege, wir sind Teil davon. Irgendetwas ist hier nicht mehr richtig.“
Plötzlich brach das Nebelgewebe auseinander, als eine Gestalt aus den Schatten trat – ein Mann in schwarzer Rüstung, der ebenso unheimlich wie geheimnisvoll wirkte. „Du bist zurück“, sagte er, als würde er sie schon lange erwarten. „Ich habe auf euch gewartet.“
„Du bist der Schattenklinge“, sagte Lyra, „doch du bist nicht mehr derselbe. Was hast du getan?“
Der Krieger schüttelte den Kopf, seine Augen glänzten unheimlich. „Ich bin mehr als der Ritter, den ihr besiegt habt. Ich habe die Dunkelheit selbst berührt und wurde Teil von ihr. Aber ihr seid wieder da, um das zu beenden, was ihr angefangen habt.“
„Das wird nicht einfach“, antwortete Kai und legte eine Hand auf seine Klinge. „Du hast mehr als nur Magie an dir. Du hast die Zeit selbst verändert.“
„Die Zeit ist ein Riss, den wir nicht immer reparieren können“, flüsterte der Schattenklinge. „Die Welt ist längst gefallen, doch einige von euch sind noch nicht bereit, das zu begreifen.“
Bevor sie handeln konnten, ließ der Schattenklinge einen Fluch los, der die Gruppe in einen Strudel aus Erinnerungen und Zeitreisen hineinzog. Sie fanden sich plötzlich mitten in den blutigen Wirren der Französischen Revolution wieder – Paris, 1793, ein Ort des Chaos und der Zerstörung.
„Nicht schon wieder“, sagte Solan, als er den gewaltigen Tumult und das Wüten der Revolutionäre um sie herum wahrnahm. Die Straßen waren übersät mit Leichen, und der Geruch von Feuer und Tod lag schwer in der Luft. „Ich habe diese Zeit studiert, aber ich hätte nie gedacht, sie selbst zu erleben.“
„Die Zeitlinien verschwimmen“, sagte Myria, ihre Augen weiteten sich, als sie eine seltsame Macht über die Menschenmengen spürte. „Wir sind nicht nur Zeugen der Geschichte – wir sind ihre Teilhaber.“
Kai und Lyra sahen sich an. „Wir haben hier etwas zu tun“, sagte Lyra entschlossen. „Aber zuerst müssen wir verstehen, warum die Zeit so verzerrt ist.“
Die Gruppe bewegte sich durch die chaotischen Straßen und fand sich bald in einem geheimen Lager von Royalisten wieder, die gegen die Revolutionäre kämpften. Sie hatten schon einmal mit solchen politischen Kämpfen zu tun gehabt, aber hier fühlte sich alles anders an.
„Dort“, sagte Seraphine plötzlich und zeigte auf eine Gruppe von Männern, die in dunklen Gewändern zu einer verborgenen Versammlung gingen. „Das sind keine gewöhnlichen Revolutionäre. Da ist etwas Unheimliches an ihnen.“
„Wir müssen herausfinden, wer sie wirklich sind“, sagte Lyra entschlossen. „Vielleicht ist dies der Ursprung der Dunkelheit, die wir überall spüren.“
Doch sie waren nicht allein. Nyx, die Flüsterin der Nacht, tauchte aus den Schatten auf und flüsterte mit einer Stimme, die wie der Wind in den Straßen wehte. „Ihr seid wieder hier. Aber dieser Ort ist nicht wie der, den ihr kennt. Ihr habt mehr als nur den Verlauf der Geschichte verändert. Ihr habt das Schicksal selbst berührt.“
„Wir sind nicht hier, um zu verlieren“, sagte Kai mit einem Funken Entschlossenheit in den Augen. „Und wir werden auch nicht aufhören, bis wir die Wahrheit herausgefunden haben.“
Die Dunkelheit hatte ihren Ursprung in den geheimen Räumen von Versailles, wo die Masken des Schicksals sich immer weiter veränderten und die Zeit selbst durch das Spiel von Mephos und seinen Schattenagenten verzerrt wurde. Und so begannen die Gefährten erneut, das große Abenteuer zu erleben – durch die verworrenen, epischen Zeitalter der Geschichte, immer näher an das wahre Geheimnis der dunklen Mächte, die die Zeit auf ihre Weise verändern wollten.
Und der Weg führte sie weiter, von den rauchenden Ruinen des alten Paris bis zu den Kriegsfeldern Spaniens, von den goldenen Palästen des antiken Rom bis hin zu den verborgenen Inseln der Piraten im 18. Jahrhundert. Jede neue Ära trug ihren eigenen Schmerz, ihre eigenen Kriege und ihre eigenen düsteren Geheimnisse.
Und stets waren sie zusammen, immer bereit, dem Schatten zu trotzen, der die Zeit in seinen eisernen Griff genommen hatte.