Kapitel 8: Das Reich von Mu
Die Halle von Atlantis erstrahlte in einem gleißenden, fast überirdischen Licht. Ihre Wände, übersät mit uralten Gravuren, schienen die Geschichten längst vergangener Zivilisationen zu erzählen. Zivilisationen, die in einer Zeit existierten, die die Welt nur noch in Legenden kannte. Lyra ließ ihre Finger gedankenverloren über die pulsierenden Symbole ihres goldenen Armbands gleiten. Das Armband, eng an ihrem Handgelenk, schien auf die geheimnisvolle Magie dieses Ortes zu reagieren, leuchtete und vibrierte im Takt der unsichtbaren Energie, die durch den Raum strömte. Thorins warnende Worte hallten in ihrem Kopf wider: „Bereitet euch vor, denn was euch dort erwartet, wird eure Vorstellungen von Zeit und Raum für immer verändern.“
Ein seltsames Gefühl von Faszination und Besorgnis stieg in ihr auf, als sie sich in der Halle umblickte. Die Zeit war ein Spielball in diesem Raum, und die Wände schienen von einer Macht zu flüstern, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lag.
Kaum hatten sie sich gesammelt, als die Macht der Zeit sie erneut ergriff. Die Luft um sie verzerrte sich, und der Raum schien sich in alle Richtungen gleichzeitig auszudehnen. Ein blendendes Licht hüllte sie ein, und plötzlich schien der Boden unter ihren Füßen zu verschwinden. Ihr Herz klopfte wild, als sie das Gefühl der Schwere verlor und in eine Leere eintauchte, die Zeit und Raum selbst auflöste. Das goldene Armband an ihrem Handgelenk pulsierte stärker, als würde es die Energie der Zeitsprünge in sich aufnehmen.
Und dann, mit einem scharfen Atemzug, kehrte die Welt zurück. Vor ihnen erstreckte sich das Reich von Mu – eine atemberaubende Vision aus Jade und Gold, die ihre Sinne überwältigte. Gigantische Tempel, kunstvoll mit feinen Schnitzereien verziert, erhoben sich majestätisch über das smaragdgrüne Wasser. Lianen und exotische Blumen, deren Farben im Sonnenlicht schimmerten, schmückten die Fassaden. Die Luft war von einem sanften, melodischen Summen erfüllt, als ob die Landschaft selbst atmete und mit ihnen sprach.
Lyra, Kai und Solan sahen sich um, noch immer überwältigt von der fremden Schönheit des Ortes. Ihre Kleidung hatte sich, wie so oft, der Zeit und dem Ort angepasst: Lyra trug ein leichtes Gewand aus schimmernder Seide, das in den Farben des Himmels und des Ozeans schillerte. Symbole, die wie ferne Sterne funkelten, zogen sich über das Gewebe. Ihr goldenes Armband jedoch blieb unverändert – ein konstantes Element inmitten der fließenden Veränderungen der Zeit. Solans Robe war schlicht, aber elegant, der Gürtel, den er trug, zierte das Symbol einer aufgehenden Sonne. Kai war in eine Rüstung aus Vulkanglas gehüllt, die mit Mustern versehen war, die den Wellen des Meeres ähnelten und im Licht wie flüssige Lava glänzten.
„Das ist… unglaublich“, flüsterte Lyra, ihre Stimme von Ehrfurcht und Staunen durchzogen, als ihre Blicke über die Tempelanlagen schweiften. Jeder Stein, jede Verzierung schien mit einer uralten Bedeutung aufgeladen zu sein, als ob der Ort selbst ein lebendiges Buch der Geschichte war.
Solan trat näher, seine Augen fixierten das goldene Armband an ihrem Handgelenk. „Es scheint, als würde dein Armband immer mehr Macht absorbieren. Siehst du das Leuchten? Es ist stärker als zuvor.“
Lyra nickte, konnte den Blick jedoch nicht von der überwältigenden Schönheit der Landschaft abwenden. „Ich spüre es“, murmelte sie. „Es ist, als ob das Armband lebt. Aber warum? Warum jetzt, hier?“ Ihre Gedanken wirbelten um die unzähligen Fragen, die dieser Ort in ihr aufwarf.
Kai, der ein Stück vorausgegangen war, blieb plötzlich stehen. „Wir sind nicht allein“, sagte er in gedämpftem Ton. Seine Hand wanderte unbewusst zu seinem Schwert, doch seine Haltung war ruhig, abwartend.
Aus den Schatten eines der gewaltigen Tempel trat eine Gestalt hervor – eine Frau mit schulterlangem Haar, das wie flüssiges Silber glänzte. Ihre Augen waren tief und mysteriös, wie die unendlichen Weiten des Meeres. Sie trug ein Gewand, das die gleichen Symbole wie Lyras Armband zierte. Ihre Erscheinung war gleichzeitig majestätisch und beruhigend, und als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme wie das leise Murmeln eines Baches in einer Sommernacht – ruhig, aber voller Macht. Die Sprache, in der sie sprach, war längst vergessen, doch Lyra, Kai und Solan verstanden jedes Wort. Ihre Fähigkeit, jede Sprache zu verstehen und zu sprechen, war in diesem Moment aktiviert, als hätte die Zeit selbst ihnen dieses Geschenk gemacht.
„Ihr tragt das Zeichen des Omnifaktums“, sagte die Frau und deutete mit einem geheimnisvollen Lächeln auf Lyras Armband. „Eure Ankunft war vorherbestimmt.“
Lyra hob instinktiv ihre Hand. Das goldene Armband fing das Licht der Umgebung ein und reflektierte es in leuchtenden Mustern. „Was wisst ihr darüber?“ fragte sie, ihre Stimme fest, doch innerlich spürte sie eine aufkommende Spannung, die sich wie ein unsichtbares Netz um sie legte.
Die Frau lächelte sanft. „Mehr, als ihr denkt. Das Reich von Mu ist nicht nur ein Ort – es ist ein Schlüssel zu dem, was ihr sucht. Doch jede Macht hat ihren Preis.“
Die Worte der Fremden ließen die Luft schwer und elektrisch werden. Solan warf einen flüchtigen Blick auf Kai, dessen Hand sich leicht zu seinem Schwert senkte, bereit für alles, was kommen könnte. Doch Lyra blieb ruhig, ihr Blick war fest auf die Frau gerichtet, unerschütterlich und neugierig zugleich.
„Was ist der Preis?“ fragte Lyra schließlich, ihre Stimme leiser, doch voller Entschlossenheit. Das goldene Armband an ihrem Handgelenk schien ihre Frage zu unterstreichen, als die Zeichen darauf kurz aufleuchteten.
Die Frau trat näher, ihre Bewegungen fließend und beinahe unmerklich. Sie deutete auf den größten Tempel, dessen Spitze in den Himmel zu ragen schien, als wolle er den Gott selbst berühren. „Dort werdet ihr es erfahren. Doch seid gewarnt – nicht alle, die vor euch kamen, haben es geschafft.“
Die Spannung in der Gruppe stieg merklich. Doch Lyra spürte, dass sie diesen Weg gehen mussten. Das Armband an ihrem Handgelenk zog sie förmlich zu dem mächtigen Tempel hin, als ob es die Magie des Omnifaktums in ihr wusste, dass dies der entscheidende Moment war.
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren“, sagte Lyra schließlich, ihre Stimme fest und klar, ohne Zögern. Sie drehte sich zu Kai und Solan um. „Lasst uns herausfinden, was uns hierhergeführt hat.“
Kai nickte mit einem entschlossenen Blick, während Solan leise murmelte: „Ich hoffe, wir sind bereit.“ Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, den mächtigen Tempel zu erreichen, die Sonne im Rücken und das Schicksal vor sich.
Der Hüter der Zeitenwelle
Die Gruppe bahnte sich ihren Weg durch den dichten Dschungel, begleitet vom sanften Leuchten von Lyras goldenem Armband. Es pulsierte in gleichmäßigen Abständen, wie der Zeiger einer Uhr, und schien ihre Schritte zu lenken. Der Dschungel, ein undurchdringliches Dickicht aus leuchtenden Pflanzen und seltsamen, fast geisterhaften Kreaturen, war lebendig. In der Dunkelheit funkelten ihre Augen wie Sterne, deren Licht in der schwülen Luft der tropischen Nacht flimmerte. Ein feuchter Duft von Moos, nassen Wurzeln und exotischen Blüten stieg in die Nasen der Abenteurer, während das unheilvolle Summen unbekannter Insekten wie ein düsteres, kaum hörbares Lied in der Stille der Nacht widerhallte.
Nach Stunden des Marschierens traten sie endlich aus dem Schatten des Waldes. Sie standen auf einer riesigen Lichtung, wo sich ein imposanter Tempel erhob. Die massiven Steinstufen waren von wilden Ranken und Moosen überwuchert, und an der Spitze des Tempels thronte eine Statue. Eine Gestalt, die eine große Sanduhr in den Händen hielt, ihre feinen Züge mit einer Zeitlosigkeit versehen, die den Atem stocken ließ. Der Hüter der Zeitenwelle.
„Das ist es“, sagte Solan leise, und seine Stimme trug etwas Ehrfurcht in sich, als er auf die Statue starrte.
„Sieht aus, als wäre es bewacht“, murmelte Kai, als er auf eine Gruppe von Kriegern deutete, die wie Schatten durch das Dämmerlicht schlichen. Ihre Rüstungen glänzten im schwachen Licht, poliert und perfekt wie unberührte Edelsteine. Die langen Speere in ihren Händen knisterten vor aufgeladener Energie, und jeder ihrer Schritte hinterließ ein Echo, das durch die Luft zuckte.
Lyra schätzte die Lage ruhig ab, ihr Blick entschlossen, die Anspannung in ihren Zügen kaum zu ertragen. Das goldene Armband an ihrem Handgelenk schimmerte, als ob es den Fortschritt ihrer Reise spürte. „Wir müssen einen Weg hinein finden“, sagte sie leise, aber mit fester Entschlossenheit in der Stimme.
Mit Kais taktischem Geschick und Solans Wissen über die alte Architektur entwickelten sie rasch einen Plan. Die Entscheidung fiel auf eine verborgene Seitentür, fast vollständig von der üppigen Vegetation verdeckt. Lyra legte ihre Hand auf die Wand des Tempels, und das Armband begann stärker zu leuchten. Ein sanfter Klick hallte wider, als ein Mechanismus aktiviert wurde und sich die Tür geräuschlos öffnete.
Die Prüfung des Hüters
Das Innere des Tempels war von einer fast heiligen Stille umhüllt, nur das leise Tropfen von Wasser, das irgendwo tief im Schatten des Raumes rieselte, unterbrach die Stille. Die Wände waren mit Gravuren bedeckt, die in purem Gold glänzten. Die Geschichten, die sie erzählten, waren von großen Zivilisationen, die einst die Macht der Zeitenwelle beherrschten und stürzten. Lyra fuhr mit ihren Fingern über die Gravuren und spürte die eisige Kühle des Goldmaterials, als ihre Gedanken zu den unerforschten Kräften drifteten, die in ihrem Armband ruhten.
Schließlich erreichten sie die zentrale Kammer. In der Mitte der Halle schwebte eine riesige Sanduhr, deren Glas wie ein Netz aus Sternenstaub funkelte. Das innere Leuchten der Sandkörner war hypnotisch, wie eine flimmernde Illusion. Plötzlich hallte eine tief brummende Stimme durch den Raum, als ob die Wände selbst mit Leben erfüllt wären.
„Wer wagt es, die heiligen Hallen der Zeitenwelle zu betreten?“, fragte die Stimme, und die goldenen Gravuren an den Wänden begannen zu pulsieren. Lyra trat mutig vor, das goldene Armband an ihrem Handgelenk schimmerte wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit.
„Wir suchen die Wahrheit über das Omnifaktum“, antwortete sie, ihre Stimme fest und voller Entschlossenheit.
Die Luft begann zu vibrieren, und vor ihnen materialisierte sich eine schemenhafte Gestalt. Der Hüter der Zeitenwelle, dessen Augen in einem flüssigen, goldenen Glanz erstrahlten, hielt in seinen Händen eine kleinere Version der Sanduhr, die in der Mitte des Raumes schwebte.
„Um die Macht der Zeit zu beherrschen, müsst ihr eure Würdigkeit beweisen“, erklärte der Hüter mit ruhiger Stimme. Dann hob er die Sanduhr, und die Sandkörner begannen, sich schneller zu bewegen. Im selben Moment veränderte sich die Umgebung, als wären sie in eine andere Dimension versetzt worden. Die Gruppe fand sich inmitten einer gewaltigen Arena wieder, die von jubelnden Menschenmengen umgeben war, deren Rufe wie ferne, dröhnende Wellen klangen.
Die Herausforderung
Der Hüter erklärte, dass sie drei Prüfungen bestehen müssten: Mut, Weisheit und Opferbereitschaft. Die erste Prüfung begann sofort. Ein riesiges Wesen, das aus Schatten und Feuer zu bestehen schien, erhob sich vor ihnen. Seine Augen glühten rot wie Lava, und aus seinem Maul schlugen Funken. Kai zog sein Schwert, das sich wie ihre Kleidung automatisch an die Zeit und die Gegebenheiten anpasste. Lyra hielt sich mit ihrem goldenen Armband bereit, das in regelmäßigen Abständen pulsierte, als ob es den Verlauf des Kampfes vorhersah.
Gemeinsam kämpften sie als Team. Kai lenkte das Wesen mit schnellen, präzisen Angriffen ab, während Solan eine Beschwörungsformel murmelte, die er auf den Tempelwänden gelesen hatte. Lyra konzentrierte sich darauf, das Armband zu aktivieren. Als das Wesen zu einem gewaltigen Schlag ausholte, sandte das Armband eine goldene Lichtwelle aus, die den Angriff zurückwarf und den Schatten in tausend Funken zerfallen ließ.
Die Menge jubelte, doch die zweite Prüfung wartete bereits. Um sie herum begann sich ein riesiges Labyrinth zu bilden, dessen Wände sich ständig verschoben. Lyra schloss die Augen und konzentrierte sich auf das pulsierende Armband. Es zog sie durch das Labyrinth wie ein unsichtbarer Faden, während Kai und Solan dicht hinter ihr herhielten.
Am Ende des Labyrinths wartete die letzte Prüfung: Opferbereitschaft. Eine Vision erschien vor Lyra. Sie sah die Gesichter der Menschen, die sie zurücklassen müsste, wenn sie die volle Macht der Zeitenwelle beanspruchen würde. Doch sie wusste, dass ihre Mission von größerer Bedeutung war als ihr eigenes Leben. „Ich gebe alles, was nötig ist, um die Zeit zu schützen“, sagte sie entschlossen und trat vor.
Die Vision verblasste, und sie fanden sich wieder in der zentralen Kammer des Tempels. Der Hüter nickte. „Du bist würdig. Die Macht der Zeitenwelle gehört nun dir.“
Das goldene Armband an Lyras Handgelenk begann heller zu leuchten als je zuvor. Die Zeichen auf der Oberfläche des Armbands verwandelten sich in eine fließende Sequenz, die unendliches Wissen und Macht symbolisierte. Das Armband verschmolz förmlich mit dem Omnifaktum, als es seine volle Macht erlangte.
Der Aufbruch
Als sie den Tempel verließen, war die Luft frisch und kühl, die ersten Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach des Dschungels. Lyra spürte das Gewicht ihrer Verantwortung, doch sie wusste, dass sie die nötige Kraft besaß, um die Zeit zu schützen.
Kai grinste sie an. „Und was jetzt?“
Lyra betrachtete ihr Armband, das in den Sonnenstrahlen glänzte. „Jetzt beginnt unsere wahre Reise.“
Die Gruppe setzte ihren Weg fort, entschlossen, die Geheimnisse der Zeit zu ergründen und die Welt vor den dunklen Mächten zu bewahren, die das Gleichgewicht bedrohten.