Kapitel 4: Der Abstieg in die Dunkelheit
Die Luft in den engen Gängen der Pyramide war dick und still, erfüllt von einem schwer fassbaren Hauch der Vergangenheit. Lyra, Solan, Kai und Imhotep bewegten sich langsam vorwärts, jeder Schritt begleitet von dem Knistern der Fackeln, deren flackerndes Licht die Wände in ein Wechselspiel aus Schatten und Formen tauchte. Die alten Hieroglyphen, die die rauen Steinwände zierten, erzählten stumme Geschichten, ihre Farben längst verblasst, doch ihre Präsenz unübersehbar.
„Bleibt wachsam“, flüsterte Imhotep und ließ seine Fingerspitzen über die tief eingravierten Symbole gleiten. Sein Tonfall war andächtig, fast ehrfürchtig. „Diese Pyramide ist mehr als nur ein Bauwerk. Sie ist ein Tor zu einer Macht, älter als die Sterne selbst.“
Kai, der direkt hinter ihm ging, zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Seine Hand lag ruhig, aber fest am Griff seines bronzenen Schwertes, dessen stumpfer Glanz die Kämpfe widerspiegelte, die es überdauert hatte. „Ob alt oder nicht – wir haben keine Wahl. Dieses Fragment muss gefunden werden.“
„Das Omnifaktum ist keine gewöhnliche Reliquie“, warf Solan ein, während er die Hieroglyphen mit aufmerksamem Blick studierte, als würde er darin Antworten suchen. „Es gehört nur denen, die bereit sind, seine Bürde zu tragen. Doch das größte Risiko hier ist nicht die Pyramide, sondern unser eigener Hochmut.“
Lyra spürte das Gewicht des goldenen Armbands an ihrem Handgelenk. Die pulsierenden Symbole auf seiner Oberfläche schimmerten unruhig im Schein der Fackeln, als versuchten sie, ihr eine geheime Botschaft zu übermitteln. Das Schmuckstück schien mehr als nur ein Gegenstand zu sein – es war lebendig, lauernd, immer präsent.
„Es ist, als wäre die Zeit hier stehengeblieben“, murmelte Lyra, während sie ihren Umhang enger um die Schultern zog. Ihr Gewand aus fein gewebtem Leinen, das an die Gewänder der alten Priester erinnerte, schmiegte sich sanft an ihren Körper. Auch Kai und Solan hatten sich in die Epoche eingefügt: Kai in einem schlichten, aber robusten Gewand, Solan in einem langen, würdevollen Umhang, dessen Stoffe in gedämpftem Licht leise flimmerten.
Imhotep führte sie tiefer in das Labyrinth der Pyramide. Die Gänge wurden enger, die Luft schwerer, und mit jedem Schritt schien die Last der Geschichte auf ihnen zu lasten. Schließlich erreichten sie eine massive Tür, deren Oberfläche mit komplexen Hieroglyphen bedeckt war. Lyra betrachtete die Symbole aufmerksam, doch ihre Bedeutung blieb ihr verborgen. Das Armband jedoch begann heftiger zu pulsieren, und flüchtige Worte formten sich in ihren Gedanken.
„Hier beginnt die wahre Prüfung“, erklärte Imhotep mit einer Stimme, die Respekt und Ehrfurcht gleichermaßen vermittelte. „Diese Tür öffnet sich nicht durch Gewalt. Sie verlangt… Wahrheit.“
Kai trat vor, seine Stirn gerunzelt. Zögernd legte er die Hand auf die kalte Steinfläche. „Welche Wahrheit könnte das sein?“
„Die Pyramide sieht alles“, antwortete Imhotep. „Sie kennt eure Geheimnisse und Ängste. Nur wer bereit ist, sich ihnen zu stellen, wird weiterkommen.“
Solan nickte langsam, die Augen schmal vor Nachdenklichkeit. „Es geht nicht nur um das Fragment. Wir müssen uns selbst beweisen, bevor wir weitermachen können.“
Plötzlich begann die Tür vor ihnen in einem sanften, phosphoreszierenden Licht zu leuchten. Ein tiefes Grollen erfüllte die Gänge, als die massive Steinplatte sich mit unerwarteter Leichtigkeit zur Seite bewegte. Dahinter lag eine Halle, in deren Zentrum das schimmernde Fragment schwebte, umgeben von einer Aura, die die Luft zum Flimmern brachte. Es wirkte lebendig, pulsierend, ein Relikt vergangener Zeitalter. Schatten längst vergessener Zivilisationen tanzten an den Wänden, als würden sie ihre Geschichten flüstern.
„Das ist es“, hauchte Imhotep mit ehrfürchtiger Stimme. „Das Omnifaktum in seiner reinsten Form. Es zeigt den Kreislauf von Werden und Vergehen – die Essenz aller Existenz.“
Er trat vor, seine Augen auf die schwebende Reliquie gerichtet. „Diese Hallen existierten schon lange vor den Pyramiden. Sie sind ein Portal, geschaffen von den Atlantern, doch sie tragen einen Fluch. Nur wenige haben jemals den Mut aufgebracht, sie zu betreten.“
Lyra spürte, wie das Armband an ihrem Handgelenk lebendig wurde. Die Symbole auf seiner Oberfläche begannen, sich in synchronem Rhythmus mit dem Fragment zu bewegen. Ein Sog aus Bildern und Gefühlen überrollte sie, zu schnell und intensiv, um sie vollständig zu begreifen.
„Das ist Atlantis“, flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Hier liegen die Antworten, nach denen wir suchen.“
Imhotep nickte. „Atlantis war nicht nur eine Stadt. Es war der Höhepunkt menschlicher Weisheit – und ihrer Hybris. Sein Untergang ist die Lektion, die ihr verstehen müsst.“
Das Licht in der Halle wurde heller, umhüllte sie und löste die Dunkelheit auf. Lyra spürte, wie das Armband sie mit einer unaufhaltsamen Kraft in eine andere Zeit zog. Die Mauern der Pyramide verschwammen, und ein neuer Ort, ein neuer Moment begann sich vor ihnen zu entfalten.
Die Pyramide selbst schien zu atmen, während die Zeit sich in einer einzigen, gewaltigen Bewegung verschob.