Kapitel 2: Der Zeitenschlüssel.
Eine fast greifbare Stille lag über der Höhle, als würde sie die Welt von jeder außenstehenden Realität abschneiden. Nur das gedämpfte Echo der Schritte hallte durch die Luft, während die Gruppe über den unebenen Boden schlich. Es war, als würden ihre Bewegungen die längst vergessenen Energien des Raumes wecken. Die mit uralten Gravuren bedeckten Wände schienen zu leben: Was zunächst wie einfache Linien erschien, verwandelte sich in komplexe, pulsierende Symbole. Diese leuchteten in sanften Wellen auf, als reagierten sie auf eine unsichtbare Energiequelle.
Lyra blieb abrupt stehen, ihre Lampe beleuchtete eine besonders filigrane Inschrift. Ihre Augen wanderten aufmerksam über die Gravuren. „Schaut euch das an“, flüsterte sie ehrfürchtig, ihre Stimme kaum lauter als ein Atemzug, als wolle sie die uralte Stille nicht stören. Das goldene Armband an ihrem Handgelenk begann leise zu pulsieren, ein zartes Licht durchbrach die Dunkelheit, als würde es die Energie der Umgebung in sich aufnehmen. „Es ist, als würden die Symbole mit dem Armband interagieren.“
Solan trat näher, seine Augen glänzten vor intellektueller Neugier. Er fuhr vorsichtig mit einem Finger über eine der Gravuren, die sich von den anderen abhob. „Das hier ist kein einfaches Muster. Es ist ein Schlüssel“, murmelte er nachdenklich. „Diese Höhle ist kein rein physischer Ort. Sie existiert zwischen den Zeiten. Die Gravuren reagieren auf das Armband, als hätte es eine Verbindung zu etwas Größerem.“
Kai, der bislang nur skeptisch beobachtet hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick wanderte misstrauisch zwischen den leuchtenden Symbolen und dem Armband hin und her. „Und was bedeutet das für uns? Müssen wir jetzt raten, wie wir das Ding aktivieren?“, fragte er trocken, seine Stimme voller Ungeduld.
Solan hielt seinem Blick stand, sein Ton blieb jedoch ruhig. „Das Armband hat uns hierher geführt. Es ist mehr als ein Artefakt – es ist ein Tor.“
In diesem Moment flackerte das Licht des Armbands plötzlich auf und wurde heller. Die Gravuren an den Wänden begannen intensiver zu leuchten, und ein tiefes, vibrierendes Summen erfüllte die Luft. Die Wände schienen sich zu bewegen, ein lebhafter Tanz aus Licht und Schatten entfaltete sich. Lyra hob instinktiv die Hand, das Armband erstrahlte nun in einem gleißenden Licht, das sich wie eine Welle über die Höhle ausbreitete.
„Das ist es“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Plötzlich begann die Wirklichkeit um sie herum zu zerbrechen. Der Boden unter ihren Füßen verlor an Substanz, während die Dunkelheit der Höhle einer gleißenden Helligkeit wich. Für einen Augenblick schienen sie schwerelos im Raum zu schweben. Dann, fast unmerklich, spürten sie wieder festen Boden unter ihren Füßen.
Als Lyra und die anderen ihre Augen öffneten, fanden sie sich in einer vollkommen anderen Welt wieder. Die Luft war warm und schwer, durchzogen von dem Duft nach Gewürzen und Sandelholz. Vor ihnen erstreckte sich eine antike Stadt, deren weiße Marmortempel und prächtige Gebäude im glänzenden Sonnenlicht erstrahlten. An den Toren standen Wachen in kunstvoll verzierten Rüstungen, deren Blicke die Fremden aufmerksam musterten.
„Athen, 130 nach Christus“, flüsterte Solan mit ehrfürchtiger Stimme. „Wir sind in der Vergangenheit.“
Lyra konnte ihre Faszination kaum verbergen. Ihre Augen weiteten sich, als sie die gewaltigen Bauwerke betrachtete. „Das ist also das antike Athen“, sagte sie staunend. „Es ist, als würde die Geschichte vor unseren Augen lebendig.“
Zu ihrer Überraschung hatten sich ihre Kleidung und ihr Äußeres der Epoche angepasst. Lyra trug eine schlichte, aber elegante Tunika, die ihr mühelose Bewegungen erlaubte. Solan hatte die Kleidung eines Gelehrten jener Zeit, während Kai wie ein Krieger der Antike in leichtem Leder gekleidet war. Sie waren so gut getarnt, dass sie in der Menge nicht auffielen.
„Das Armband hat uns nicht nur durch die Zeit geführt“, bemerkte Solan nachdenklich. „Es hat uns vorbereitet. Aber warum sind wir hier?“
„Vielleicht finden wir die Antwort im Tempel des Hephaistos“, schlug Lyra vor und deutete auf ein prächtiges Gebäude in der Ferne. Ohne zu zögern machte sich die Gruppe auf den Weg, durch das geschäftige Treiben der Stadt. Die Straßen waren erfüllt von den Rufen der Händler, den philosophischen Debatten der Gelehrten und den Gesprächen der Einheimischen, die in einer Vielzahl von Sprachen gesprochen wurden. Doch erstaunlicherweise verstanden sie jede Silbe – ein weiterer Beweis für die Kraft des Armbands.
Am Eingang des Tempels wurden sie von einer jungen Priesterin empfangen. Ihr Blick war durchdringend, ihre Haltung erhaben. „Ihr tragt das Zeichen des Lichts“, sagte sie mit einer Stimme, die wie eine Prophezeiung klang. „Der Tempel hat euch erwartet.“
Die Gruppe folgte ihr in das Innere des Tempels. Die Wände waren reich mit Wandmalereien verziert, die Szenen aus der griechischen Mythologie darstellten. Das Licht des Armbands brach sich in einem goldenen Mosaik auf dem Boden und warf sanfte Reflexionen an die Wände. In der Mitte der Halle lag ein rundes Steinfragment, das zu glühen begann, als Lyra sich ihm näherte.
„Das ist es“, flüsterte Solan, seine Stimme bebend vor Spannung. „Das erste Fragment des Omnifaktums. Aber wie wir es aktivieren, ist noch unklar.“
Lyra kniete nieder und strich vorsichtig mit den Fingern über die Ränder des Fragments. Das goldene Armband pulsierte heftig, und eine fast greifbare Energiewelle durchflutete sie. In diesem Moment wusste sie, dass dies erst der Anfang war. Eine Reise durch die Zeit hatte begonnen – und damit das größte Abenteuer ihres Lebens.